Im Mai 2024, vor etwa einem Jahr, kamen bei der obligatorischen archäologischen Begleitung der Grabung am Salvatorplatz für die Aufstellung des Denkmals für die Familie Mann Reste von Bestattungen auf dem Friedhof der nahegelegenen Salvatorkirche und der Friedhofsmauer zum Vorschein. Das Büro für Archäologie Neupert, Kozik & Simm war mit den Arbeiten beauftragt und barg ein Kinderskelett aus der Barockzeit. Der Friedhof war bis ca. 1800 in Betrieb. Eigentlich war dies bekannt, und der Friedhof ist auch als Bodendenkmal ausgewiesen, doch war man davon ausgegangen, dass wegen der zahlreichen Baumaßnahmen am Platz nach 1945 und eines Luftschutzkellers unter dem Platz keine Funde zu erwarten seien. Bei einer Begehung des Kellers unterhalb der Salvatorgarage stellte sich jedoch heraus, dass dieser sich komplett unter dem Gebäude befindet, nur ein schmaler Laufgang unter dem Platz gelegen ist.
Den Platz komplett bis auf die geplante Fundamenttiefe von teils bis zu 1,90 m aufzugraben und archäologisch untersuchen zu lassen, wäre mit sehr hohem Kosten- und Zeitaufwand verbunden, so dass ein Baustopp und anschließend ein Rückbau bis zur Klärung der Lage geboten war.
Die Funde, gerade bei Baubeginn, waren ein harter Schlag und brachten mich in Zwiespalt: Einerseits interessiere ich mich selbst für Geschichte und Archäologie; Sichten, Sammeln, Dokumentieren von Funden sind Teil meiner künstlerische Praxis. Und die Grabungen stießen auch auf Interesse von Passanten, bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Literaturhauses. Der Salvatorplatz verwandelte sich für kurze Zeit in eine Ausgrabungsstätte, an der Überreste vergangener Lebenswelten und ehemaliger Stadtbewohner sichbar wurden – ein an und für sich spannender Prozess. Und dass die Familie Mann hier ein Denkmal bekommen soll, wo auch Lebensspuren anderer Familien sichtbar werden, erscheint passend. Andererseits wurde eben durch die Funde der langersehnte Abschluss des Denkmalprojekts verhindert, das sich schon über mehrere Jahre hinzieht. Die Ausgrabungen setzten eine Kette von erneuten Abstimmungsprozessen mit den Denkmalschutzbehörden in Gang, u.a. mit dem Bayerischen Landesamt für Denkmalpflege, wo das Projekt am Salvatorplatz zeitweise in Frage gestellt schien, nicht im Hinblick auf das Bodendenkmal, sondern grundsätzlich; Abteilungen, die vorher anscheinend nicht beteiligt waren, schalteten sich ein, der Landesdenkmalrat – ein Gremium, von dessen Existenz ich vorher nichts wusste – wurde um Stellungnahme gebeten, und gab das Thema wieder an die Denkmalpflege zurück, ich wurde von dort aufgefordert, eine erneute Projektbeschreibung mit Visualisierungen einzureichen, aus der die Wirkung im Ensemble „München nach 1945“ klarer hervorgehen sollte …
Die zentrale Lage in der Altstadt hat also ihre Tücken. Dennoch bleibt der Standort für das Denkmal inhaltlich ideal, in unmittelbarer Nachbarschaft des Literaturhauses, mit seiner Verbindung zur Literatur und insbesondere seinem „Hausheiligen“ Thomas Mann. Auch hatte ich den Entwurf genau für den Platz konzipiert, als Versammlung der über die Stadt verstreuten Schilder an einem zentral gelegenem Ort, mit den hochaufragenden, Licht spendenden Leuchten. Anfang des Jahres 2025 wurde ein grundsätzliches Einverständnis des Denkmalschutzes mit dem Denkmal singnalisiert, was sich in einer Genehmigung für weitere (archäologische) Grabungen manifestierte. Nun müssen gemäß der Empfehlung die Fundamente für die Leuchten flacher geplant, technische Lösungen für die veränderte Ausgangslage gefunden werden. Die Planungen gehen jetzt weiter!
Flashback zum Prozess der Ideenfindung: In München setze ich 2018 meine Recherche zu den Straßenschildern der Manns fort. In den 2000ern wurden dort eine Reihe von Straßen und Plätzen nach den Kindern der Manns benannt. Das hängt wohl zusammen mit der gestiegenen Popularität der Familie nach der Verfilmung ihrer Geschichte durch Heinrich Breloer 2001, mit verstärkter wissenschaftlicher Beschäftigung, aber auch mit dem Bemühen der Stadt München, verstärkt Frauen bei der Benennung von Straßen zu berücksichtigen und dadurch sichtbar zu machen.
Ich finde immerhin fünf Mitglieder der Familie (mit Heinrich wären es sechs): Thomas Mann in Bogenhausen, Klaus und Erika am Arnulfpark, Elisabeth ganz im Osten und Golo ganz im Westen. Diese weitgestreckte Verteilung bringt mich auf die Idee, die Mitglieder über die Schilder zusammenzuholen und von der Peripherie ins Zentrum, an den Salvatorplatz in der Altstadt zu bringen.
Was in München weiter auffällt: Die Schilder sind an Straßenleuchten angebracht, anders als in Berlin. Daraus entwickelt sich die Idee, sie mitzunehmen, als charakteristische Bestandteile des öffentlichen Raums, die jeweils unterschiedlich ausfallen und, ähnlich wie die Schilder, viel über ihren Standort erzählen.
Die Orte liegen weit auseinander, wie man auf einem Stadtplan sehen kann. Um sie zu markieren und auch die Objekthaftigkeit der Leuchten mit hineinzunehmen, stecke ich Nägel mit breiten Köpfen in einen Plan. Sie reflektieren das Licht, „leuchten“.
Thomas-Mann-Allee, Bogenhausen
In München liegt die nach Thomas Mann benannte Straße im großbürgerlichen Stadtteil Bogenhausen, geprägt durch Villen und großzügige Einfamilienhäuser. Auch dieses Umfeld ist ein Unterschied zu Berlin, wo Wohnblocks und kommunale Bauten vorherrschend waren. „Allee“ heißt es hier, im Gegensatz zum prosaischen „Straße“; sie verläuft parallel zur Isar, ruhig über dem Fluss, von dem sie ein parkähnlicher Grünstreifen trennt, dessen Bäume sich über die Straße wölben. Auf der anderen Seite Gärten mit ausladenden alten Bäumen. Umbenannt wurde die Föhringer Allee, 1956, bereits ein Jahr nach dem Tod Thomas Manns. Dies zeigt, dass man sich der Bedeutung Thomas Manns bewusst war.
Das Schild ist groß und breit, vermittelt Solidität und Dauerhaftigkeit: Die Schrift ist in Emaille aufgebracht, Farbe als glasartige Schicht aufgeschmolzen – was eine harte, glänzende Oberfläche ergibt. Es ist von der Mitte aus leicht gewölbt, wirkt dadurch plastisch – und funktional läuft das Wasser von dieser gespannten Fläche gut ab. Die Schrift ist von einer Kartusche umrahmt, womit Historisch-Barockes anklingt.
Die Leuchte, an der das Schild angebracht ist, strahlt ebenfalls etwas Klassisch-Solides aus, mit der schlichten, kantigen Form, erinnert an das Design der 1950er Jahre und hat die schöne Typen-Bezeichnung „Bavaria“. Beim Besuch gefallen mir die Spinnweben zwischen Leuchte und Schild. Interessant ist das Schild dort auch, weil es in direktem Zusammenhang mit dem zentralen Lebensort der Familie steht: hier wohnten die Manns fast 20 Jahre lang, hier schrieb Thomas Mann u.a. den Zauberberg. 1913 ließen sich Thomas und Katia eine Villa bauen. Sie hat eine wechselvolle Geschichte, voller unterschiedlicher Nutzungen, Zerstörungen, Rekonstruktionen: Sie wurde im 2. Weltkrieg stark beschädigt, abgerissen, durch einen Bungalow ersetzt. 2001 ließ der in München geborene Alexander Dibelius, Banker bei Goldman-Sachs, die Fassade rekonstruieren, das Haus innen jedoch umbauen. Der Investor Thomas Manns erwarb die Villa schließlich 2015. Man kann sich vorstellen, dass dabei die Namensähnlichkeit eine Rolle gespielt hat – insofern passt dieses Detail auch zum Denkmal Straßen Namen Leuchten und der Anziehungskraft von Namen. An der Mauer der Villa erinnert eine Tafel erinnert an ihre Geschichte – und gerade stehen Leiter und Hochdruckreiniger vor ihr – sie wird offensichtlich gesäubert, vielleicht hatte sich jemand durch die weiße Fläche zum Hinterlassen eines Schriftzugs herausgefordert gefühlt …
Erika und Klaus – an den Gleisen – Arnulfpark
Erika und Klaus liegen ganz nach beieinander, als Geschwisterpaar, in einem 2004 auf dem ehemaligen Gelände der Deutschen Bahn angelegten Neubaugebiet, dem Arnulfpark. Hier, entlang der Gleisstrecke, zwischen Hacker- und Donnersbergerbrücke und der Arnulfstraße, war noch Platz, so dass dieser Ort relativ zentral liegt – auch wenn er durch seine Lage nicht so wirkt und immer noch etwas von „uncharted territory“ hat. Vielleicht passt die Nähe zu Gleisen und Bahnhöfen nicht schlecht, waren die Geschwister doch viel unterwegs (wenn auch häufiger mit dem Auto). Hier sind die Nachbarn z.B. Lilli Palmer, Marlene Dietrich und Bernhard Wicki. Erika ist damit mit Schauspielern ihrer Generation zusammengebracht, gleichzeitig damit auf ihre „Rolle“ auch festgelegt, sie, die so vieles war: Kabarettistin, Schriftstellerin, politische Aktivistin, Herausgeberin der Schriften ihres Vaters … Die Leuchten sind funktional-modern, entsprechend der Bauzeit, und so könnte man auch hier einen Generationenunterschied zur Leuchte des Vaters in Bogenhausen ausmachen.
Elisabeth Mann Borgese – Baustelle – Riem
Elisabeth Mann Borgese war das jüngste Kind der Manns. Die 2004 nach ihr benannte Straße liegt in einem Baugebiet in der Nähe des ehemaligen Flughafens Riem, der heutigen Messe; ich fahre mit dem Rad dorthin, brauche etwa 1 ½ Stunden (so lange wie in Rom zur Via Thomas Mann). Als ich das Schild fotografiere, fragen Bauarbeiter misstrauisch, was ich da mache, in wessen Auftrag, das Fotografieren der Baustelle sei verboten. Nur mit Mühe kann ich sie davon überzeugen, dass es mir allein um die Schilder geht … Aber das ist auch eine Erfahrung, die zur Arbeit im öffentlichen Raum gehört: Man muss sich mit den Leuten vor Ort auseinandersetzen. Dem Neubaugebiet entspricht das Design der Leuchte, die noch etwas mimimalistischer auftritt als die von Erika und Klaus, mit Glaszylinder und aufgesetzter Reflektorscheibe.
Auf den Schildern ist der Name „Mann“ stets präsent. Im Fall von Elisabeth dominiert dieser Familienname gegenüber den Vornamen, der abgekürzt wird: „Elis. Mann – Borgese“; Das hat natürlich technisch-funktionale Gründe, da der Name, voll ausgeschrieben, zu lang wäre und mit der maximalen Zeichenzahl für Straßenbenennungstafeln (so die offizielle Bezeichnung) in Konflikt käme.
Dabei ist gerade Elisabeth sehr eigenständig, als Anwältin der Rechte der Meere und Mitglied des Club of Rome. Elisabeth, ist hier mit der Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Selma Lagerlöf zusammengespannt – obwohl sie einen nicht-literarischen Beruf hatte – in der Familie Mann die Ausnahme. Geschrieben hat sie natürlich trotzdem!
Golo in Freiham – Neubau, Westen und Bundesrepublik
Die Straße, die nach Golo benannt ist, liegt ganz in entgegengesetzter Richtung, schon außerhalb des eigentlichen Stadtgebiets, im Westen, in Freiham. Dort entsteht ein komplett neues Viertel. So neu, dass es bei meinen Besuchen 2018/19 zwar schon provisorische Masten aus Holz gab, aber der Straßenname noch nicht angebracht war – wurde der Beschluss der Benennung doch erst kurz vorher gefasst, 2017. Insofern laufen die Erstellung des Denkmals und der Straße parallel. Diesen Moment beschließe ich in das Denkmal zu übernehmen, und auch dort einen Holzmast zu verwenden, was das Provisorische einfängt und die Vielfalt an Materialien und Konstruktionen erhöht. Auch das Schild fügt mit „Weg“ den Ortsbezeichnung eine neue Variante hinzu. „Weg“ deutet das Schmalere, weniger Befestigte, eher zu Fuß Begangenene als Befahrene an. Assoziativ passt das zum leidenschaftlichen Wanderer. Golo ist hier per Straßennamen mit Persönlichkeiten des Nachkriegszeit in Verbindung gebracht, vor allem der deutschen, in seiner Rolle als Historiker, Publizist und Kommentator des Zeitgeschehens: Mit Ellis Kaut, Hans Clarin, Erich Kästner oder Helmut Schmidt, dessen Name schon auf einem der Schilder zu lesen ist. Die Lage im Westen (der Republik) passt dazu. Das Neubauviertel wird aber eher fertig sein als das Denkmal – soviel zeichnet sich 2024 ab – das dadurch seinerseits eine Situation festhält.
Zurück zu den Anfängen: Im Juni 2018, vor sechs Jahren also, radelte ich zur Thomas-Mann-Straße in Berlin. In meinem handschriftlichen Tagebuch steht als Résume: „Idee für Denkmal verfestigt sich: Straßenschilder.“ Beim Besuch ging es zunächst aber nur um ein erstes Sammeln von Ideen, um eine Anregung durch den Ort. Ich hatte gesehen, dass es dort, neben der Straße, ein nach Thomas Mann benanntes Schwimmbad gibt; und vielfältige Assoziationen stellten sich ein: Schwimmen‑Wellen‑Wasser‑Tod in Venedig‑Tadzio …
Die Straße liegt im ehemaligen Ost-Berlin, im Prenzlauerberg, zweigt ab von der Greifswalder, Richtung Weißensee. Sie wurde 1976 nach Thomas Mann benannt, also zu DDR-Zeiten. Diese Verortung lässt sich auch erinnerungspolitisch an den weiteren Straßenbenennungen, an den Nachbarn von Thomas Mann ablesen: Am selben Pfosten ist der Name des Komponisten Hanns Eisler angebracht. Er floh wie Mann vor dem Nationalsozialismus, emigrierte in die USA. Beide kannten sich, trafen sich im Exil, hatten teils ähnliche Interessen, z.B. am Faust-Stoff. Insofern ergibt eine räumliche Nähe Sinn. Die politische Zuordnung Thomas Manns wird aber noch deutlicher, wenn man sich das weitere Umfeld ansieht:
Jenseits der Greifswalder setzt sich die Straße in der Erich-Weinert-Straße fort, benannt nach dem Schriftsteller, der während des NS-Regimes u.a. in die Sowjetunion emigrierte und nach seiner Rückkehr in der DDR Funktionärsrollen übernahm.
Thomas Mann, dessen politische Verortung nicht ganz einfach war, zwischen Konservatismus und Sozialismus, ist also in einen ganz bestimmten Zusammenhang von linken, antifaschistischen „Kulturschaffenden“ und Zeitgenossen gestellt. In jeder Stadt, das wird sich noch bei den weiteren Recherchen und Reisen zeigen, sieht dieser Kontext anders aus, mal sind es internationale Schriftstellerkollegen, wie Gustave Flaubert und George Sandes in Rom, mal ist es der Kreis der Familie wie in München, wo es auch biographische Anknüpfungspunkte gibt. Diese Zusammenhänge und Nachbarschaften sind Teil der Gedächtniskultur. In Straßenschildern und den Namen der Persönlichkeiten auf ihnen drückt sich Wertschätzung aus – aber auch politische Setzung und zeitgebundene Mentalität.
Ein Straßenname steht außer solchen bewußten Arrangements und Konzepten der Anordnung im alltäglichen urbanen Umfeld, wird durch es beeinflusst, überlagert. Es ergeben sich skurril anmutende Beziehungen; so steht in Berlin der Straßenname im Schatten eines riesigen roten dreidimensionalen Hinweispfeils auf eine Apotheke. Literatur als Heilmittel, könnte man assoziieren. Straßenschilder sind zunächst funktionale Zeichen, zur Orientierung, zur Angabe einer Adresse. In Berlin finden sich Hausnummern unter dem Namensschild, um eine Straße in Abschnitte zu gliedern. Wenn man es aus diesem funktionalen Zusammenhang löst, es freistellt, so dämmerte es mir später, tritt die Gedächtnisfunktion klarer hervor.
Interessant, da orts- und zeittypisch, ist auch die typographische Gestaltung: Schwarz auf Weiß, im Gegensatz zu der in den meisten Städten, etwa in München, verwendeten Variante Weiß auf Blau, eine serifenlose Schrift, was Strenge und eine gewisse Härte vermittelt. Die Schrifttype ist speziell, elegant, mit dem scharf-eckigen „ß“, an dem die Zusammensetzung aus einem langen „s“ und einem „z“ noch deutlich ablesbar ist. Hier handelt es sich nicht um einen DDR-Font, den man andererorts auch noch findet, sondern um eine neusachliche Groteskschrift aus den 1920ern (Erbar Grotesk), die sich ab den 1930er Jahren in Berlin verbreitete – und damit zu Lebzeiten von Thomas Mann -, nach der Wende dann (wieder) für zu ersetzende oder neue Straßenschildern in den Ostteilen verwendet.
Was für den Standort weiter charakteristisch ist: die Straßenleuchte, mit dem Mast aus Gussbeton, mit einem nach unten offenen, ornamental geriffelten Glaszylinder. Hier handelt es sich tatsächlich noch um ein DDR-Fabrikat.
Zeitlichkeit lässt sich neben der Schrift aus Materialität und Zustand der Schilder ablesen. Sie verwittern, Staub lagert sich ab; es bilden sich schwarze Spuren, Streifen, die Sonne bleicht die Schrift aus, sie ist z.B. auf einem Schild fast verschwunden, kaum noch lesbar; ähnlich wie Inschriften auf alten Grabsteinen.
Auf der Rückfahrt komme ich an einem Friedhof in Mitte vorbei, ich glaube, es ist der Alte Garnisonsfriedhof, wo ich vor Jahren jenseits der Friedhofsmauer eine Schichtung, einen Haufen von Straßenschildern gesehen hatte, die wohl für eine Baustelle demontiert waren, die Linienstraße, Gormannstraße etc. Daran erinnerte ich mich jetzt und suche Fotos wieder heraus, die ich damals gemacht habe, 2008 war das.
Und es keimt die Idee, dass eine Installation mit Straßenschildern ein Erinnerungszeichen für die Manns sein könnte. Doch zunächst will ich weitere nach den Manns benannte Straßen aufsuchen, in anderen Städten, als nächstes in München, wo auch das Denkmal stehen soll.
Eine am Platz vorhande Leuchte wurde im April 2024 zur Platzmitte hin versetzt und in das zukünftige Ensemble integriert. Es ist die Leuchte, die später das neu angefertigte Schild „Katia-Mann-Platz“ tragen wird. Die Kombination der Leuchte vom Typ eines historischen Kandelabers, die bereits am Platz steht, mit dem Namen der in München aufgewachsenen Katia Pringsheim ist bewusst gewählt. Mit der Versetzung der Leuchte, noch vor der Installation des Restes des Ensembles, entsteht am Platz eine erst auf den zweiten Blick wahrnehmbare Veränderung. Eine interessante Zwischenstufe des Denkmals, auch zusammen mit dem bereits montierten Schild an der Fassade.
Außerdem wird Strom verlegt. Dank an das Baureferat für die Planung und Organisation und die Firma SPIE für die Ausführung der Arbeiten!
Es ist schon einige Zeit her, dass ich in Lübeck war, dort, wo die Vorfahren der Familie von Thomas Mann lange ansässig waren, wo er selbst, wo Heinrich und seine vier Geschwister geboren und aufgewachsen sind, und wo eine Straße nach ihm benannt ist. Im Sommer 2019 war das. Jetzt, 2024, wo die Realisierung des Denkmals in greifbare Nähe rückt, inklusive des Straßenschildes aus Lübeck, versuche ich, anhand meiner Notizen und Erinnerungen den Aufenthalt zu rekonstruieren.
Dieser Tage wurde die Leuchte fertiggestellt, die innerhalb des Denkmals auf diejenige in Pacific Palisades/Los Angeles verweist, die dort vor dem Haus steht, das Thomas Mann mit seiner Familie während seines Exils in Kalifornien bewohnte, dem heutigen Thomas Mann House. Die Kunstgießerei Anton Gugg hat dafür einen Aluminiumguss angefertigt. Damit ging abermals ein längerer Prozess zu Ende: Nach Fotos, die ich 2019 gemacht hatte, und nach Plänen der Public Works Los Angeles wurde ein digitales Modell der Leuchte gezeichnet, vom Künstler Florian Froese-Peek, mit einem 3‑D-Drucker in ein dreidimensionales 1:1 Modell aus Kunststoff übertragen, dann im Ausschmelzverfahren gegossen. Ich hatte Pacific Palisades im Herbst 2019 besucht – siehe der Blogeintrag. Lange hatte ich recherchiert und mich bemüht, eine Leuchte von dort zu bekommen – was sich als schwierig herausstellte. Auch der Transport nach Deutschland wäre ein langwieriges Unternehmen gewesen, wie ich am Beispiel der in den USA produzierten Leuchte nach dem Modell in New York feststellen musste. Letzen Endes habe ich mit der Reproduktion den Rat von Bob Gale befolgt, Drehbuchautor und Filmproduzent (unter anderem „Zurück in die Zukunft“), der in der Nachbarschaft wohnt. Er schrieb damals: „My suggestion is that you have the fixture extensively photographed and measured, and then duplicate it in Germany. This would be the most cost effect and simple solution.“ Dieser Vorschlag kommt sicher nicht von ungefähr von einem, der in der Filmbranche zu Hause ist, in dem oft mit Requisiten und Nachbildungen gearbeitet wird. Und vielleicht passt das Konzept der Replik einer Leuchte aus den 1920/30er- Jahren mittels moderner digitaler, aber auch traditioneller Verfahren, für ein Denkmal, das in der Zukunft – voraussichtlich im Spätherbst 2023 – aufgestellt werden soll, ja auch zum Motto „Back to the Future“.
Eine Reise Ende September 2020, die ich trotz Corona-Bedenken doch antrete: Gegen Mitternacht komme ich mit dem Zug aus Marseille an. Die Ansagen der Haltestellen habe ich gespannt mitverfolgt, um das Aussteigen nicht zu verpassen. Der Bahnhof, für die Ortschaften Ollioules und Sanary-sur-Mer zusammen angelegt, ist menschenleer, aber hell erleuchtet – was mich auf das Thema der Leuchten einstimmt.
Nachts im Bus nach Curitiba, einer Großstadt etwa sechs Stunden von São Paulo Richtung Westen, wo es eine weitere Rua Thomas Mann gibt, die ich noch besuchen will. Klasse „Leita“ („Bett“) – die Sitze lassen sich fast bis zur Waagrechten klappen, es ruckelt trotzdem ganz schön. Freue mich darauf, dem Freitag-Feiertagsbetriebs des Allerheiligentages in São Paulo zu entfliehen, in aller Frühe (4.30) in einer Stadt anzukommen, deren Name mir bis dahin unbekannt war.
Die Luft ist mild, kühler als in São Paulo, es zwitschern Vögel, große Bäume am Busbahnhof, ihr mattes Grün in der Dämmerung angenehm. Es wird Tag. Pastellfarbene Hochhäuser tauchen auf, Schnellstraßen. Curitiba scheint wie eine sauberere, grünere und kleinere Version von São Paulo (bei 1,7 gegenüber 12 Millionen Einwohnern), in der sich die Stadtutopien der 1950er und 60er Jahre entfalten konnten und nicht überwuchert wurden. Hellviolette Blüten an den Bäumen und auf dem Pflaster.
Warten auf einen Bus, neben einer Hinweistafel zur
Stadtgeschichte, mit Klebebuchstaben, die sich gelöst haben. Abgeblättert
ergeben sich neue Kombinationen und Wörter.
Das Oskar-Niemeyer-Museum – mir bislang unbekannt und riesig, wie die Bauwerke und Monumente des Brasilia-Architekten allgemein: ein auf einem Pfeiler-Sockel schwebender Körper, durch zwei flach gespannte und spitz aufeinandertreffende Bögen gebildet, an den Seiten verglast, durchaus beeindruckend. Keine Furcht vor großen Zeichen und Formen, eine Architektur-Skulptur. Vielleicht zu viel „Zeichen“. Auge-Sehen-Kunst-Museum – die Assoziationskette läuft mir zu glatt ab.
Mit einem Leihrad, das gerade jemand vor dem Museum abstellt, Richtung Rua Thomas Mann. Trickreich: man darf sich nur innerhalb eines bestimmten Gebietes bewegen und nur dort das Rad abstellen. Radle los, einem Radweg nach Norden entlang. Unterwegs komme ich an einer Ansammlung niedriger weißgestrichener Holzhäuser vorbei, die an ein Schtetl erinnert, ein Freilichtmuseum und zugleich Gedenkort an die polnischen Immigranten im 18. und 19. Jahrhundert nach Brasilien (Bosque João Paulo II.). Diese Präsenz europäischer Migration, gerade aus Mittel- und Osteuropa, lässt wiederum an die Familie Mann denken, in der Thomas‘ Großvater mütterlicherseits, Johannes Ludwig Bruhns, von Lübeck nach Brasilien übersiedelte – ich hatte über diese Geschichten der Einwanderung ja auch einiges in São Paulo erfahren, unter anderem im Gespräch mit Matthias Makowski und Jörg Hayer vom Goethe-Institut.
Hier in Curitiba führt der Weg zu einem Park und See. Weiter reicht die Zone nicht – abstellen und zu Fuß weiter. Am Rande des Parks will ich abkürzen und stoße auf einen Drahtzaun – ein Loch lässt mich durchschlüpfen. Dahinter Urwald – oder was ich mir darunter vorstelle. Der Boden dicht bewachsen mit Farnen und Gebüsch. Wie auf einem Bild von Thomas Struth. Angrenzend Grundstücke, Mauern, Zäune. Um herauszukommen, muss ich über einen klettern.
Durch eine Gegend mit kleinen und größeren Villen. Danach wird es sehr ländlich, niedrige einstöckige Häuser, neben der Straße ein Bach mit Hütten und Gärten. Hier haben sich als erste polnische Einwanderer niedergelassen, wie ich später erfahre, und in der Tat könnte man sich an osteuropäische Landstriche erinnert fühlen.
Endlich die Rua Thomas Mann, im Viertel Barreirinha, wie auf den Schildern quasi als Untertitel steht. Unspektakulär, eine ganz normale Straße – und gerade darin interessant. Die Straße scheint „ein ganz klein wenig netter als die in São Paulo“. So schrieb mir nach einem virtuellen Rundgang schon Fredric Kroll, Experte für die Familie Mann, besonders für Klaus, und deren Rezeption. Und in der Tat, jetzt vor Ort wird das auch im Detail sichtbar: Der Mast ist weniger bröckelig, das Schild unzerknautscht, in besserem Zustand als sein dortiges Pendant. Intelligent die Anbringung, die ohne Verschraubung auskommt.
Gerade als ich Fotos mache, nähert sich ein Auto mit offener Heckklappe, den Kofferraum voller Kartons, und hält an der Einmündung zur Hauptstraße, unter dem Straßenschild. Per Lautsprecher werden Haushaltswaren wie Töpfe, Pfannen angeboten. Einbruch der Gegenwart und schöner Kontrast zu „Thomas Mann“.
Der Mast am anderen Ende der Straße ist sogar mit zwei Leuchten bestückt, die in unterschiedliche Richtungen weisen – und ganze Bündel von Leitungen laufen auf ihn zu, führen von ihm weg. Thomas Mann als Knotenpunkt im Beziehungsgeflecht, könnte man frei assoziieren. Auch sein Name ist eingebettet in ein Assoziationsfeld: Die Nachbarstraße ist benannt nach einem Namensvetter und europäischen Schriftstellerkollegen, der freilich einer ganz anderen Epoche angehört, Thomas Morus, Autor von „Utopia“. Vielleicht lief die Auswahl der Straßennamen tatsächlich über den gleichen Vornamen und den Anklang des Nachnamens. Auch fungieren weiter überwiegend philosophische Schriftsteller wie Montesquieu und Voltaire als Namensgeber, und es könnte sein, dass Thomas Mann hier in seiner Eigenschaft eben weniger als Romancier denn als politisch-philosophischer Schriftsteller und Essayist gewählt wurde.
Interessant in puncto „Stadtmobiliar“ finde ich auch die Müllständer vor den Häusern. Auf Metallpfosten, um Abstand zum Boden zu schaffen und Ratten und Ungeziefer fernzuhalten, thronen skulpturale korbartige Behälter, in die man seine Mülltüten stellen kann. Boden und Seitenflächen sind ornamental durchbrochen, was der Belüftung zugute kommt. Die Anwohner haben die Ständer variiert und angepasst, sie sehen immer etwas anders aus.
In der Nähe zeichnet sich hinter einer Schule und Bäumen ein seltsames Bauwerk in leuchtenden Farben ab, ein Leuchtturm, wie man ihn hier im Binnenland nicht erwarten würde. Es ist der „Farol do Saber Antonio Machado“, eine kommunale Bibliothek, eingerichtet 1996. Von diesen Turm-Bibliotheken hat die Gemeinde Curitiba über 40 im Stadtgebiet verteilt. Die Bibliothek ist gleichzeitig auch Denkmal für den spanischen Schriftsteller Antonio Machado, 1875 geboren, im selben Jahr wie Thomas Mann! Inspiriert ist der Bau inspiriert vom legendären Leuchtturm und der Bibliothek des antiken Alexandria, zwei ganz unterschiedlichen Einrichtungen, die jetzt hier symbolisch verknüpft werden – was aber besonders interessiert, da Stadt und Name für mich Ausgangspunkt mehrerer Rechercheunternehmen und Installationen waren, siehe das Projekt ENCYCLOPEDIALEXANDRINA. Diese Bezugnahme lässt die hohe Bedeutung erahnen, die man an einer Stadtteilbibliothek beimisst, ein Leuchtturmprojekt gewissermaßen für das Stadtviertel. Ein schöner Zufall, dass die Leuchten-Metapher sich in unmittelbarer Nachbarschaft befindet zu den Straßennamen-Leuchten mit dem Namen Thomas Mann.
Zurück zum Park, zum Rad, das da noch steht, dann wieder in die Innenstadt – mit einem Zwischenstopp an einem monumental-pompösen Granit-Denkmal für die Unabhängigkeit der Provinz Paraná aus den 1950er Jahren (Platz des 19. Dezember) – zum Busbahnhof. Rückfahrt nach São Paulo. Sehne mich nach Ruhe.
Im Bus Notizen über Curitiba und das Gesehene – doch dann stürzt word ab, die Datei ist verschwunden. Nur noch vage Erinnerungen an einen Text und einen Aufenthalt, den ich viel später versuche zu rekonstruieren.
Von Los Angeles nach São Paulo, auf der Suche nach den Manns, nach Straßennamen und ‑leuchten. Zunächst hatte ich gedacht, einmal auf dem amerikanischen Kontinent, fahren wir auch nach Südamerika – und die Strecken unterschätzt. Was auf der Karte nur eine Handspanne entfernt scheint, sind in Wirklichkeit ca. 10 000 km Luftlinie. Auf dem Landweg innerhalb des gesetzten Zeitrahmens kaum möglich – also doch wieder ein Langstreckenflug.
Die
Entfernung ist auch groß bezogen auf die Manns, ihre Biographien und ihre
Rezeption: In Nordamerika lebten und arbeiteten sie lange Jahre, wurden teils
auch US-Staatsbürger; Michael blieb dort, Elisabeth ging nach Kanada. Trotz
dieser Präsenz haben sie keine Spuren in Form von Straßennamen hinterlassen.
Auf dem südamerikanischen Kontinent dagegen war von den Manns kaum jemand, und Thomas schon gar nicht. Trotzdem gibt es mehrere Straßen, die nach ihm benannt sind, unter anderem in São Paulo und Curitiba. Womit hängt das zusammen? Wohl mit dem hohen Stellenwert von Literatur in Südamerika allgemein und der Migrationsgeschichte von Deutschen zwischen diesem Kontinent und Europa im Besonderen, wie sie gerade in der Familie Mann deutlich wird: Manns Mutter Julia Silva-Bruhns stammte aus Brasilien, als Tochter von Maria de Silva, aus portugiesischer Familie, und des Lübecker Kaufmanns Johann Ludwig Bruhns, der nach Brasilien ausgewandert war und dort, in São Paulo, eine Firma gegründet hatte. Nach dem Tod seiner Frau ging er mit seinen Kindern nach Lübeck zurück.
In der Biblioteca Mario de Andrade, der zentralen Stadtbibliothek in São Paulo, entdecke ich in der Sektion zur Geographie Brasiliens, neben Würdigungen brasilianischer Fußballspieler, auch eine Biographie der Brüder Mann. Die gehören also auch zur hiesigen (Kultur)Landschaft. Nigel Hamilton betont das brasilianische Erbteil der Mutter und ihren Einfluss auf die literarische Karriere der Söhne, auch ihre politische Haltung: Gerade Heinrich habe viel von der Mutter geerbt, den kämpferischen, leidenschaftlichen, radikalen Geist, während Thomas eher dem Vater nachgeschlagen sei … Nichtsdestotrotz sind Straßen nach Thomas, nicht nach Heinrich benannt.
Die Rua Thomas Mann in São Paulo ist eine Seitenstraße im nördlichen Quartier Casa Verde, wieder einmal etwa anderthalb Stunden Busfahrt vom Zentrum aus, geprägt durch eine Mischung von kleinen Läden, Restaurants und Autowerkstätten. Von Ästhetik ist hier im praktisch-angewandten Sinn die Rede: „Estetica automobilista“ heißt eine Werkstatt, wo geschliffen und lackiert wird.
Thomas Mann befindet sich in Gesellschaft von brasilianischen und internationalen Schriftstellerkollegen, wie dem portugiesischen Lyriker Armando da Silva Carvalho, nach dem die Hauptstraße benannt ist, aber auch von Intellektuellen, die mit Sprache insgesamt zu tun hatten: eine Querstraße zuvor trägt den Namen des Esperanto-Begründers Zamenhof.
Es gibt zwei Arten von Straßenschildern: die offensichtlich älteren an Hauswänden, mit einem weiteren Schild mit Zusatzinformation zur Person, hier „escritor“ und den Lebensdaten. Durch gelben Putz sind die Schilder hier eingerahmt und teilweise überdeckt, sehen aus wie festgemörtelt. Da sie so mit der Architektur verbunden sind, wäre es schwierig, sie in München zu integrieren. Und in dem Fall, bei dem ich schon vorhabe, ein Schild an eine Wand anzubringen, der Rue Thomas Mann aus Paris, muss ich mich noch mit dem Denkmalschutz auseinandersetzen. Zum Glück gibt es aber auch die Variante der Schilder an den Leuchten.
Das Straßenschild weiter unten ist arg zusammengeknickt und ‑gestaucht. Es sieht aus, also ob ein Olaf Metzel hier zu Werke gegangen sei, gewinnt aber gerade in seinen Faltungen eine plastisch-dekonstruktivistische Qualität, die mir sehr gut gefällt. Am liebsten würde ich es gleich mitnehmen.
Wahrscheinlich sind es hohe LKWs gewesen, die das Schild touchiert haben. Wie hoch ist es eigentlich gehängt? Das interessiert mich, auch im Hinblick auf die Münchener Installation.
In der Hauptstraße gehe ich auf die Suche nach einem Werkzeug zum Messen. Im Laden einer alten Dame, die Katzenfutter und Waschmittel anbietet, werde ich leider nicht fündig. In einem Geschäft für Haushalts- und Handwerksbedarf (in Italien wäre es eine mesticceria) sehe ich Meterstäbe, kürzer als die europäische Variante, dafür dicker. Ich entscheide mich dann aber für ein gelbes Metallmaßband. Und messe am Mast herum, messe, wie hoch das Schild mit dem Namen Thomas Mann gehängt ist. Gar nicht so einfach, denn das Band mit seinen drei Metern reicht nicht bis hinauf. Es sind 3,40 Meter, damit höher als in München.
Früh gehen die Straßenleuchten an, etwa um halb sechs, noch vor der Dämmerung. Allerdings nur in manchen Straßenzügen, den Hauptstraßen. Die Seitenstraßen und damit auch die Rua Thomas Mann bleiben noch unbeleuchtet. Es scheint sich um ein Energiesparkonzept zu handeln, das bestimmte Straßenzüge priorisiert – so wie Fluggäste in der 1. Klasse das Essen zuerst bekommen. Ich drehe mehrere Runden, man kennt mich inzwischen im Viertel schon, und endlich gehen auch die Leuchten in den Seitenstraßen an, geben ein rötlich-gelbes Licht – bis auf die eine in der Rua Thomas Mann! Als ob sie sich bewusst verweigern würde. Das könnte überhaupt ein weiteres Konzept sein, um Verbindung und Transfer zu verdeutlichen: Jeweils die eine Lampe leuchtet nicht – aber dafür ihr Pendant in München! Das Licht wäre gleichsam umgeschaltet, umgezogen.
Ich räume das Feld und hoffe, in den nächsten Tagen von der Stadtverwaltung eine Leuchte bekommen zu können. Auf der Rückfahrt durch die dunkelnde Stadt schlafe ich im Bus ein, trotz des Stop-and-Go im Feierabendverkehr.
1941 siedelten Katia und Thomas Mann von Princeton an die Westküste, nach Los Angeles über – ausschlaggebend ist die Aussicht, in einer selbstgebauten, nicht mehr gemieteten Villa wohnen zu können, damit den Emigrantenstatus hinter sich zu lassen und in den USA Wurzeln zu schlagen. Dazu kommen Landschaft und Wetter: „der Himmel ist hier fast das ganze Jahr heiter und sendet ein unvergleichliches, alles verschönendes Licht“ (TM an Hermann Hesse).
Haus Thomas Manns, ca. 1942; Design & Architecture Museum; University of California, Santa Barbara
Mich hatte man dagegen gewarnt: „You may give going to LA some serious thought. Things there are pretty tough.“ So zum Beispiel ein Fahrer, mit dem ich an der Ostküste, in Maine unterwegs war.
Und auch Georg Blochmann, Direktor des Goethe-Instituts in New York, zeichnet ein düsteres Bild: LA sei ein Symbol für das Scheitern des American Dream, mit extremer sozialer Segregation und der Dysfunktionalität öffentlicher Infrastruktur, unter anderem des Nahverkehrs.
Es wird beim Aufenthalt um Kontraste gehen. Im Sozialen, zwischen öffentlich und privat, dem Licht der Metropole und ihren Schattenseiten.
Insofern interessiert mich der öffentliche Nahverkehr, und wie sich damit in dieser vom Auto dominierten Stadt der Weg zum ehemaligen Haus von Thomas Manns bewältigen lässt – auch wenn der in LA nie mit dem Bus, sondern immer im eigenen Wagen gefahren ist bzw. wurde (er hatte keinen Führerschein, im Gegensatz zu Katia und seinen Kindern, von denen besonders Erika und Elisabeth leidenschaftliche Autofahrer waren, wohl ein Terrain der weiblichen Manns).
Es dauert alles recht lang, funktioniert aber insgesamt überraschend gut. Wieder werden es die auch für andere Städte schon typischen anderthalb Stunden, um vom Stadtzentrum zum mit den Manns verbundenen Ziel zu kommen. Es geht nach Pacific Palisades, am hügeligen Westrand der Metropole. Diesmal liegen an der Peripherie keine Problemviertel oder Pendlervorstädte, sondern Villen. Mit dem Bus Richtung Santa Monica und Beverly Hills, dann in Westwood ein weiterer;
An der Haltestelle Sunset/Capri aussteigen, den San Remo Drive hinauf. Schon die Bezeichnung „Drive“ deutet darauf hin, dass man sich hier normalerweise (auto)fahrend fortbewegt. Üppige Gärten, Palmen, es wird gekehrt, gemäht, meist von Hispanics oder Schwarzen. Nach mehreren Wendungen eine Stelle, die mir aus meinen virtuellen Rundgängen per Google Earth bekannt vorkommt, wo hohe Hecken und Bäume eine mauerartige Ecke bilden, hinter der dornröschenhaft das Haus liegt. Hier scheint sich wieder das Bedürfnis nach Privatheit zu manifestieren; und die Zeit hat das Übrige getan.
Eine Leuchte ist im Gebüsch eingewachsen. Eine weitere steht der Einfahrt von Nr. 1550 gegenüber; an ihr die Straßennamen „Monaco Drive“ und „San Remo Drive“, was das Mittelmeer, die mondänen Küstenstädten der Riviera (das Viertel heißt auch so) aufruft, an deren Flair Los Angeles gerne teilhat. Doch könnte man (italienisch) „Monaco“ auch mit „München“ assoziieren, und wäre damit bei Thomas Manns früherem Wohnsitz.
Wie in New York ist interessant, wer für die Leuchten zuständig ist und Informationen dazu geben kann. Es ist das städtische Bureau of Lighting, dem ich einen Besuch abgestattet habe. Doch nehmen in dieser „residential neighborhood“ auch die Anwohner selbst Anteil. Bob Gale, Autor des Drehbuchs und Co-Produzent von „Zurück in die Zukunft“ wohnt in der Gegend (übrigens auch Armin-Mueller-Stahl, der Thomas Mann in der Serie „Die Manns“ verkörperte), ist Präsident des hiesigen Hausbesitzervereins und kennt sich bestens mit den verschiedenen Lampentypen und ihrer Geschichte , schickt sogar Fotos von ihnen. Als ökonomischste Methode der Lampenbeschaffung empfiehlt er die Rekonstruktion in Deutschland – wohl auch, weil er aus der Filmbranche kommt.
Die Frage nach Original/Rekonstruktion wird mich noch weiter beschäftigen; Sie ist auch relevant für das ehemalige Wohnhaus von Thomas Mann und den Umgang damit. Zunächst einmal bin ich aber ganz glücklich, die Leuchten in ihrem räumlichen Zusammenhang vor Ort zu sehen.
Die Leuchten berichten, gerade wenn sie so eingewachsen und marode im Gebüsch stehen, von der Ambition der Stadt, ihrer Grandezza, von ihrer Fassadenhaftigkeit. In den 1920er bis 1940er Jahren installiert, standen sie hier, als Thomas Mann in sein neuerbautes Domizil im Bauhausstil einzog – das gegenüber den historisierenden, üppigen Lampen moderner war.
2016 erwarb der deutsche Staat das Haus und richtete es als Thomas Mann House als Aufenthaltsort für Stipendiaten, als Ort für Begegnungen und Veranstaltungen ein. Nikolai Blaumer, Programmdirektor, führt mich durch Haus und Garten. Die Bibliothek wird rekonstruiert, Bücher treffen ein, aus vielerlei Orten und Institutionen, u.a. Yale .
Der Eindruck: hier lässt es sich gut arbeiten. Die Einrichtung funktional, neu, bequem, ohne übermäßigen Luxus. Auch der Bezug zu Thomas Mann ist angenehm zurückhaltend: Einige Fotos, aber keine hagiographische Inszenierung, bei der die Person des ehemaligen Hausherrn einen auf Schritt und Tritt verfolgen würde. Begegne Stipendiaten, u.a. dem Germanisten Stefan Keppler-Tasaki. Wir sprechen über das Denkmalprojekt. Mit den Manns und deren Zeitgenossen kennt er sich gut aus.
Wie im Garten mit seiner hohen Hecke, so gibt es auch in der Architektur Elemente, die abgrenzten und einen eigenen Raum betonen: die von der Ecke des Arbeitszimmers nach vorn gezogene Mauer, die, auf Wunsch Thomas Manns angelegt, Blick- und Lärmschutz gewähren sollte.
Vom Garten aus hat man einen Blick hinüber zur Hügelkette mit dem ehemaligen Haus von Lion Feuchtwanger, heute als Villa Aurora ebenfalls Residenz, für Künstler, Schriftsteller, Musiker. Daneben liegt das Getty Museum. Noch weiter entfernt, thronend auf einer Anhöhe, das Getty Center. Die Gegend ist voller großer Namen, Institutionen und Gebäude.
Als ich vom San Remo Drive zurückkehre, erwische ich spurtend gerade den Bus, der in die Stadt fährt – mit derselben Busfahrerin wie bei der Hinfahrt – und lässig begrüßt mich ein Mann im mintfarbenen Shirt: „Take a seat, relax, cold drinks will be served.“ Kalifornische Entspanntheit.
Einige Tage später bin ich erneut im ehemaligen Haus der Manns. Francis Fukuyama hält einen kurzen Vortrag, nach dem Vorbild der Radio-Ansprachen „Deutsche Hörer!“ Thomas Manns in den 1940er Jahren. Fukuyama erwartet als Reaktion auf Trump ein Erstarken der Linken/Liberalen, und sieht „not too pessimistic“ in die Zukunft.
Beim kleinen Empfang danach treffe ich unter anderem zu meiner Überraschung Thomas Demand, der bereits seit zehn Jahren in LA lebt. Er legt mir im Hinblick auf das Denkmal Chris Burdens Installation aus hunderten von Straßenleuchten vor dem LACMA ans Herz. Sie hat es zum Liebling des Publikums, zum Wahrzeichen des Museums, ja sogar der Stadt gebracht, indem dort allgegenwärtige Elemente des öffentlichen Raums, mit dem sich Bewohner identifizieren, konzentriert zusammengebracht und streng nach ihrer Größe geordnet sind – so dass sich der Eindruck einer mehrschiffigen Halle ergibt, die zum Flanieren einlädt. Die Installation ist zudem äußerst fotogen.
Ich fühle mich für einen Moment den Stipendiaten zugehörig; es sind neben denen des Thomas-Mann-Hauses auch welche von der Villa Aurora da. LA erweist sich als interessanter Hotspot, trotz oder gerade wegen der starken Kontraste, von architektonischen Landmarks und grassierender Obdachlosigkeit, von Glanz und Verwahrlosung. Ich bedaure es, dass ich nicht noch länger bleiben kann. Die Weiterreise nach Brasilien steht an, nach São Paulo, damit der letzten Station.
Dabei werde ich zufällig jetzt, am Ende des Aufenthalts, zur Evakuierung aufgefordert: es brennt. Als beim Besuch in der Villa Getty, einer rekonstruierten Villa aus Pompeji, Rauchwolken am Himmel stehen und es Asche regnet, ist das seltsam passend.
Vielleicht ist es nicht schlecht, vom Ende, von der letzten Station der Manns her anzufangen. Eine Fahrt nach Zürich – und ins nahegelegene Kilchberg, wo Thomas Mann, Katia, Erika und Golo nach der Rückkehr aus dem Exil in den USA ab 1952 wohnten und auf dem Friedhof zusammen mit Michael, Monika begraben sind. Von besonderem Interesse: Die Leuchte vor dem Wohnhaus, auf einer älteren Schwarzweiß-Aufnahme in der Rowohlt-Monographie über die Familie Mann prominent zu sehen, jedoch über Google Street View nicht, ebensowenig das Straßenschild „Erika-Mann-Strasse“ in Zürich, die es seit kurzem gibt. Und Bilder aus anderen Quellen finden sich im Netz auch nicht – so bemerkenswert und wichtig scheinen diese Straßenlaternen und Straßenschilder dann doch nicht zu sein, als dass sie fotografiert würden – vielleicht sind die Schilder auch viel zu neu. Diese Lücken in der Bild-Verfügbarkeit allein rechtfertigen bereits die Tour in die Schweiz!
Im Vorfeld, vermittelt durch Andreas Marti, der in Zürich den Kunstraum dienstgebäude betreibt, Kontakt mit Christoph Doswald, verantwortlich für Kunst im öffentlichen Raum. Ihm schildere ich mein Anliegen, und er schreibt auch gleich zurück: das Projekt klinge spannend; eine schöne Idee, die biografischen Stationen mit dem Mobiliar des öffentlichen Raums zusammenzubringen. In der Praxis stelle es sich möglicherweise etwas komplizierter dar, er können allenfalls in Sachen Zürich-Oerlikon helfen. „Was hingegen Kilchberg betrifft, so liegt das polit-geografisch nicht im unserem Territorium.“ Hier begegnet bereits ein Phänomen, auf das ich im Lauf der Recherche immer wieder stoßen werde: die Zahl der Zuständigkeiten und anzufragenden Stellen vergrößert sich von mal zu mal.
Hubert Kretschmer, Verleger, Künstler und Sammler von Künstlerpublikationen nimmt mich im Golf nach Zürich mit. Dabei ist auch Rainer Grüner, seinerseits Sammler von Künstlerbüchern. Ziel ist eine Ausstellung in der Graphischen Sammlung an der ETH (wo nebenbei auch der Nachlass Thomas Manns betreut wird). Auf diesem Kurztrip kommen ganz unterschiedliche Dinge zusammen.
Von der Ausstellung mit der S‑Bahn nach Kilchberg, am Zürisee gelegen, etwa 20 Minuten fährt man, über die Stadtgrenzen hinaus. Der Bahnhof strahlt Ruhe, Solidität und Kurortstimmung aus, mit einer Karte des Sees, einer roten Holzbank – und einer Arztpraxis gleich daneben.
Da man in den Ort nach oben steigt, gibt es viele Treppen und Durchgangssituationen. Auch damit hängt wohl das Bedürfnis nach Abgrenzung und Privatheit zusammen, ausgedrückt durch Zäune und Schilder. Aber auch sonst atmen die Anwesen eine gewisse Abgeschlossenheit. „Ruhe, Ruhe und nochmals Ruhe“ – so beschreibt Thomas Mann in einem Brief seine Wünsche. Man kann verstehen, warum er hierherzog. Dazu kommen Seeblick und Kurortatmosphäre.
Das Sanatorium in Kilchberg, an dem man vorbeigeht, lässt in Zusammenhang mit Thomas Mann unwillkürlich an den „Zauberberg“ denken, auch wenn es sich nicht um eine Lungenheilanstalt, sondern eine Privatklinik für Psychotherapie handelt. Der Ort liegt ebenfalls in der Höhe, siehe auch den Namensbestandteil „-berg“.
Das Straßenschild „Alte Landstrasse“, wo die Manns wohnten, ist solide, mit einem Rand-Rahmen eingefasst, tief geprägt, wie ein Stempel, den es der Straße und Umgebung aufdrückt. Die Buchstaben klassisch modern, schnörkel- und serifenlos, schweizerische Typografie. Sie kontrastieren mit dem Inhalt und beziehen sich auf die damalige moderne Gegenwart. Das Schild mag aus den 1950er/60er Jahren stammen, also als Thomas und Katia Mann hierherzogen.
Aus etwa derselben Zeit dürfte auch die Straßenleuchte stammen, die vor dem Haus Nr. 39 steht. Auf einem älteren Schwarz-Weiß-Foto ist sie zu erkennen, und offensichtlich noch dieselbe. Die Bäume im Hintergrund sind größer geworden, sonst hat sich nicht viel verändert. Die Gegenwart hat lediglich in Form einiger Sticker auf dem Lampenmast Spuren hinterlassen, eine geballte Faust, „FCZ“ darunter, wohl eine Drohgebärde gegen den 1. FC Zürich, und „FCK NZS“, ebenfalls auf drei Konsonanten reduzierte Wörter, deren Sinn man leicht erschließen kann. Diese Zeugnisse einer linken Szene hätte man hier, im soignierten Kilchberg, nicht erwartet.
Die Leuchte mit ihrem gebogenen Mast, lässt an eine schlanke Figur denken – nicht zufällig die Bezeichnung „Lampenkopf“ -, die aus luftiger Höhe und Distanz auf die Straße hinunterschaut. Vor der Lampe auf der Straße die schwarzen Schriftzeichen aus Teer.
Das Haus des „notorischen Villenbesitzers“ selbst, breit, mit weit vorgezogenem Walmdach, umgeben von hohen Bäumen, Zaun und Hecke. Es vermittelt Zurückgezogenheit, wirkt aber nicht abweisend. Das rostige Tor steht leicht offen, wie um hereinzubitten.
Am Pfeiler daneben eine Gedenktafel, die nüchtern feststellt, dass hier die Familie Thomas Mann wohnte, und die ehemaligen Bewohner und die Jahre ihres Aufenthalts auflistet: Thomas Mann 1954–1955, also kurz bis zu seinem Tod, Katia dann lange, bis 1980, Erika bis zu ihrem Tod 1969, schließlich Golo lange 30 Jahre. Das Understatement, das nicht von Schriftstellertum etc. erzählt, ähnlich vornehm-lakonisch wie die Grabsteine der Familie auf dem Kilchberger Friedhof. Eine abstrahierte Familie als Plastik vor dem Eingang – weder groß noch künstlerisch unbedingt wertvoll. Wohnt hier vielleicht nach den Manns (wieder) eine Familie? Darauf deutet weiter hin eine Blumenschale mit Narzissen und einem quietschbuntem Osterhasen – ein Kontrast zur sonstigen gedämpften Farbigkeit von Haus, Garten und Straße.
Das Gefühl von stehengebliebener Zeit – in der Reflexe der Gegenwart aufblitzen.
Albert Coers: Entwurf, Perspektive, Zeichnung: Florian Froese-Peek
Visualisierung des Entwurfs, Rendering: Florian Froese-Peek
Visualisierung des Entwurfs, Rendering: Florian Froese-Peek
Visualisierung des Entwurfs, Rendering: Florian Froese-Peek
Visualisierung des Entwurfs, Rendering: Florian Froese-Peek
Visualisierung des Entwurfs, Rendering: Florian Froese-Peek
Das Denkmal für die Familie Thomas Mann besteht aus Schildern von Straßen, die nach Mitgliedern der Familie benannt sind, und aus 15 Straßenleuchten. Diese stammen aus München, aber auch aus anderen Orten der Welt, die mit der Familie Mann in Bezug stehen, mit Thomas Mann, seiner Frau Katia und ihren Kindern Klaus, Erika, Golo, Elisabeth, Michael und Monika.
In Schildern und Leuchten spiegelt sich die Internationalität der Familie Mann wider, von München ausgehend, mit Lebens- und Wirkungsorten in Europa, den USA und Südamerika, gleichzeitig ihre weltweite literarische Ausstrahlung und Bedeutung. Dies ist auch anhand der unterschiedlichen Straßenbezeichnungen (Via, Rue, Rua…) ablesbar. Die Aufstellung orientiert sich an der Lage der Orte zueinander und bildet eine imaginäre Karte. Angesprochen sind Aspekte von Ortsverbundenheit, gleichzeitig Emigration, Ortswechsel sowie grenzüberschreitendem Weltbürgertum, wofür die Familie als Beispiel gelten kann.
Die bauliche Fertigstellung des Denkmals ist für Frühjahr/Sommer 2025 geplant. Archäologische Funde am Salvatorplatz machen eine Neuplanung der Fundamente der Leuchten notwendig.
Albert Coers: AusführungsEntwurf 2021, Perspektive, Zeichnung: Florian Froese-Peek
Ausgangspunkt sind Situationen in München, dem langjährigen Lebensmittelpunkt der Familie. Hier gibt es inzwischen mehrere Straßen und Plätze, die nach Mitgliedern der Familie benannt sind, nach Erika, Klaus, Elisabeth, Golo. Jedoch liegen diese an wenig frequentierten Orten, in Neubaugebieten, an der Peripherie, sind so im kollektiven Gedächtnis wenig präsent. Diese Schilder, samt der Lampen, an denen sie befestigt sind, werden ins Zentrum der Stadt gebracht, als Gruppe versammelt und dadurch stärker sichtbar. Es findet eine „Familienzusammenführung“ statt. Gleichzeitig verweisen Schilder und Lampen zurück auf ihre ursprünglichen Standorte. Damit betont das Denkmal den Bezug zu urbanen Strukturen.
Namen
Für Katia Mann, nach der bisher keine Straße und kein Platz benannt ist, wird ein neues Schild geschaffen. Angebracht ist es an einer auf dem Platz vorhandendenen Leuchte, die um wenige Meter versetzt und so in die Gruppe der weiteren Leuchten des Denkmals einbezogen wird. Dies macht „Frau Thomas Mann“ stärker im Bezug zur Stadt sichtbar, war sie doch gebürtige Münchnerin und entstammte der jüdischen Familie Pringsheim, die, wie die Manns, ihren Besitz verloren und emigrieren mussten. Die Benennung im Denkmal nimmt vorweg, was eigentlich ein langwieriger Prozess wäre. Diese Mischung von Realität und Fiktion ist auch Verweis auf literarische Verfahren, wie sie Thomas oder auch Klaus Mann praktizierten.
Leuchten
Neben Leuchten und Schildern aus München, die erinnern an Thomas, Erika, Klaus, Golo Mann und Elisabeth Mann Borgese, zeigen weitere die Spannweite zwischen Europa, Nord- und Südamerika, stellen Bezüge her. Ein Straßenschild „Rue Thomas Mann“ stammt aus Paris und wird gemäß der dort üblichen Anbringung an der Wand der Salvatorgarage zu sehen sein. Lübeck ist als Geburtsort von Thomas Mann und Schauplatz von „Buddenbrooks“ vertreten, mit einer Lampe vor der dortigen Thomas-Mann-Schule und einem Schild nach Thomas-Mann-Straße. Aus Frankfurt stammen Lampe und Schild vom Klaus-Mann-Platz, Standort eines Denkmals für verfolgte Homosexuelle von Rosemarie Trockel („Frankfurter Engel“); damit ist ein Bestandteil der Identität mehrerer Familienmitglieder inbegriffen.
Rom ist mit dem Schild „Via Thomas Mann“ und Leuchte präsent als Aufenthaltsort von Thomas (und Heinrich) Mann in jungen Jahren. Für den südamerikanischen Teil (Thomas Manns Mutter Julia stammte aus Brasilien) stehen Straßenlampe/Schild aus São Paulo.
Eine Leuchte kommt dagegen aus Nida/Nidden in Litauen, bevorzugte Sommerfrische der Familie Mann, wo sie vor dem Ferienhaus der Manns steht, heute Thomas-Mann Haus, ein Kulturzentrum und Museum. Sanary-Sur-Mer an der Côte d’Azur war erster Ort der Emigration in den 1930er Jahren. Von dort stammt eine Lampe, die für die Familie insgesamt steht, ebenso eine aus New York, in Nähe des Hotel Bedford (heute: Renwick), wo die Manns wiederholt wohnten. Ein Schild „Mann Av.“ aus New York steht für die Familie und den Namen „Mann“ als Ganzes, auch für Michael und Monika, nach denen keine eigene Straße benannt ist.
Auf Los Angeles verweist eine Leuchte. Dort ließ Thomas Mann 1942 eine Villa bauen, die er bis zur Rückkehr nach Europa 1952 bewohnte, und die heute als Thomas Mann House als Residenzhaus ein Aufenthaltsort für Stipendiaten und Ort kulturellen Austauschs ist. Eine Leuchte aus Kilchberg in der Schweiz stellt eine Beziehung her zum Wohnort von Thomas und Katia, auch von Erika (nach der in Zürich eine Straße benannt ist) und zuletzt Golo, der aber in Leverkusen verstarb, und an den dort eine Straße erinnert.
Recherchereisen an die jeweiligen Orte sind Bestandteil des Projekts, ebenso eine Buchpublikation, die Hintergrund und Entstehung des Denkmals dokumentiert, vermittelt und ergänzt, auch um die aktuellen Situationen der Straßenschilder und Leuchten vor Ort.