Back to the Roots – Berlin – München

Zurück zu den Anfän­gen: Im Juni 2018, vor sechs Jah­ren also, radel­te ich zur Tho­mas-Mann-Stra­ße in Ber­lin. In mei­nem hand­schrift­li­chen Tage­buch steht als Résu­me: „Idee für Denk­mal ver­fes­tigt sich: Stra­ßen­schil­der.“ Beim Besuch ging es zunächst aber nur um ein ers­tes Sam­meln von Ideen, um eine Anre­gung durch den Ort. Ich hat­te gese­hen, dass es dort, neben der Stra­ße, ein nach Tho­mas Mann benann­tes Schwimm­bad gibt; und viel­fäl­ti­ge Asso­zia­tio­nen stell­ten sich ein: Schwimmen‑Wellen‑Wasser‑Tod in Venedig‑Tadzio …

Die Stra­ße liegt im ehe­ma­li­gen Ost-Ber­lin, im Prenz­lau­er­berg, zweigt ab von der Greifs­wal­der, Rich­tung Wei­ßen­see. Sie wur­de 1976 nach Tho­mas Mann benannt, also zu DDR-Zei­ten. Die­se Ver­or­tung lässt sich auch erin­ne­rungs­po­li­tisch an den wei­te­ren Stra­ßen­be­nen­nun­gen, an den Nach­barn von Tho­mas Mann able­sen: Am sel­ben Pfos­ten ist der Name des Kom­po­nis­ten Hanns Eis­ler ange­bracht. Er floh wie Mann vor dem Natio­nal­so­zia­lis­mus, emi­grier­te in die USA. Bei­de kann­ten sich, tra­fen sich im Exil, hat­ten teils ähn­li­che Inter­es­sen, z.B. am Faust-Stoff. Inso­fern ergibt eine räum­li­che Nähe Sinn. Die poli­ti­sche Zuord­nung Tho­mas Manns wird aber noch deut­li­cher, wenn man sich das wei­te­re Umfeld ansieht:

Jen­seits der Greifs­wal­der setzt sich die Stra­ße in der Erich-Wei­nert-Stra­ße fort, benannt nach dem Schrift­stel­ler, der wäh­rend des NS-Regimes u.a. in die Sowjet­uni­on emi­grier­te und nach sei­ner Rück­kehr in der DDR Funk­tio­närs­rol­len übernahm.

Tho­mas Mann, des­sen poli­ti­sche Ver­or­tung nicht ganz ein­fach war, zwi­schen Kon­ser­va­tis­mus und Sozia­lis­mus, ist also in einen ganz bestimm­ten Zusam­men­hang von lin­ken, anti­fa­schis­ti­schen „Kul­tur­schaf­fen­den“ und Zeit­ge­nos­sen gestellt. In jeder Stadt, das wird sich noch bei den wei­te­ren Recher­chen und Rei­sen zei­gen, sieht die­ser Kon­text anders aus, mal sind es inter­na­tio­na­le Schrift­stel­ler­kol­le­gen, wie Gust­ave Flau­bert und Geor­ge San­des in Rom, mal ist es der Kreis der Fami­lie wie in Mün­chen, wo es auch bio­gra­phi­sche Anknüp­fungs­punk­te gibt. Die­se Zusam­men­hän­ge und Nach­bar­schaf­ten sind Teil der Gedächt­nis­kul­tur. In Stra­ßen­schil­dern und den Namen der Per­sön­lich­kei­ten auf ihnen drückt sich Wert­schät­zung aus – aber auch poli­ti­sche Set­zung und zeit­ge­bun­de­ne Mentalität.

Ein Stra­ßen­na­me steht außer sol­chen bewuß­ten Arran­ge­ments und Kon­zep­ten der Anord­nung im all­täg­li­chen urba­nen Umfeld, wird durch es beein­flusst, über­la­gert. Es erge­ben sich skur­ril anmu­ten­de Bezie­hun­gen; so steht in Ber­lin der Stra­ßen­na­me im Schat­ten eines rie­si­gen roten drei­di­men­sio­na­len Hin­weis­pfeils auf eine Apo­the­ke. Lite­ra­tur als Heil­mit­tel, könn­te man asso­zi­ie­ren.
Stra­ßen­schil­der sind zunächst funk­tio­na­le Zei­chen, zur Ori­en­tie­rung, zur Anga­be einer Adres­se. In Ber­lin fin­den sich Haus­num­mern unter dem Namens­schild, um eine Stra­ße in Abschnit­te zu glie­dern. Wenn man es aus die­sem funk­tio­na­len Zusam­men­hang löst, es frei­stellt, so däm­mer­te es mir spä­ter, tritt die Gedächt­nis­funk­ti­on kla­rer hervor.

Inter­es­sant, da orts- und zeit­ty­pisch, ist auch die typo­gra­phi­sche Gestal­tung: Schwarz auf Weiß, im Gegen­satz zu der in den meis­ten Städ­ten, etwa in Mün­chen, ver­wen­de­ten Vari­an­te Weiß auf Blau, eine seri­fen­lo­se Schrift, was Stren­ge und eine gewis­se Här­te ver­mit­telt. Die Schrift­ty­pe ist spe­zi­ell, ele­gant, mit dem scharf-ecki­gen „ß“, an dem die Zusam­men­set­zung aus einem lan­gen „s“ und einem „z“ noch deut­lich ables­bar ist. Hier han­delt es sich nicht um einen DDR-Font, den man ander­er­orts auch noch fin­det, son­dern um eine neu­sach­li­che Gro­tesk­schrift aus den 1920ern (Erbar Gro­tesk), die sich ab den 1930er Jah­ren in Ber­lin ver­brei­te­te – und damit zu Leb­zei­ten von Tho­mas Mann -, nach der Wen­de dann (wie­der) für zu erset­zen­de oder neue Stra­ßen­schil­dern in den Ost­tei­len verwendet.

Was für den Stand­ort wei­ter cha­rak­te­ris­tisch ist: die Stra­ßen­leuch­te, mit dem Mast aus Guss­be­ton, mit einem nach unten offe­nen, orna­men­tal gerif­fel­ten Glas­zy­lin­der. Hier han­delt es sich tat­säch­lich noch um ein DDR-Fabrikat.


Zeit­lich­keit lässt sich neben der Schrift aus Mate­ria­li­tät und Zustand der Schil­der able­sen. Sie ver­wit­tern, Staub lagert sich ab; es bil­den sich schwar­ze Spu­ren, Strei­fen, die Son­ne bleicht die Schrift aus, sie ist z.B. auf einem Schild fast ver­schwun­den, kaum noch les­bar; ähn­lich wie Inschrif­ten auf alten Grabsteinen.

Auf der Rück­fahrt kom­me ich an einem Fried­hof in Mit­te vor­bei, ich glau­be, es ist der Alte Gar­ni­sons­fried­hof, wo ich vor Jah­ren jen­seits der Fried­hofs­mau­er eine Schich­tung, einen Hau­fen von Stra­ßen­schil­dern gese­hen hat­te, die wohl für eine Bau­stel­le demon­tiert waren, die Lini­en­stra­ße, Gor­mann­stra­ße etc. Dar­an erin­ner­te ich mich jetzt und suche Fotos wie­der her­aus, die ich damals gemacht habe, 2008 war das.

Und es keimt die Idee, dass eine Instal­la­ti­on mit Stra­ßen­schil­dern ein Erin­ne­rungs­zei­chen für die Manns sein könn­te. Doch zunächst will ich wei­te­re nach den Manns benann­te Stra­ßen auf­su­chen, in ande­ren Städ­ten, als nächs­tes in Mün­chen, wo auch das Denk­mal ste­hen soll.

Leuchten-Markierungen

14.5.24: Auf der Bau­stel­le für das Denk­mal am Sal­va­tor­platz wer­den die Fun­da­men­te der Stra­ßen­leuch­ten mar­kiert, mit Farb­spray und Krei­de. Es ent­steht eine Cho­reo­gra­phie sich teils über­schnei­den­der Krei­se und Flä­chen, mit Kor­rek­tu­ren und ein­ge­schrie­be­nen Zah­len. Die Mar­kie­rung der vor­her­ge­hen­den Ver­set­zung einer Leuch­te ist noch sicht­bar. Auch wenn dies alles wie­der ver­schwin­den wird: ein Moment der Zeich­nung im öffent­li­chen Raum.

MANN Ave, New York – Straßenschilder unterwegs

Nach wei­ter Rei­se ist das Schild der Mann Ave aus New York ange­kom­men, es soll Bestand­teil des Denk­mals am Sal­va­tor­platz Mün­chen werden. 

„MANN Ave, New York – Stra­ßen­schil­der unter­wegs“ weiterlesen

Eingetroffen: Leuchte aus Sanary

Vor ein paar Tagen kam als Bei­trag der süd­fran­zö­si­schen Gemein­de Sana­ry-sur-Mer zum Denk­mal für die Fami­lie Mann die Leuch­te bzw. der Kan­de­la­ber, wie his­to­ri­sche Leuch­ten ger­ne genannt wer­den. Im Herbst 2020 hat­te ich den eins­ti­gen Emi­gra­ti­ons­ort der Fami­lie Mann besucht. 

Der Kan­de­la­ber kam gut ver­packt von der Fon­de­rie de Roque­vai­re, wel­che ihn restau­riert hat­te, und wur­de am Bau­hof in Mün­chen ent­ge­gen­ge­nom­men, ver­mes­sen – und beschrif­tet. Als klei­ner Neben­ef­fekt ver­tausch­ten sich Buch­sta­ben in mei­nem Namen und ich wur­de so zum „Corse“(n).

Vortrag: Ein Denkmal für die Familie Mann, Tagung „Vor Ort: Erinnerung, Exil, Migration“, 3.9.2021

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Am 3.9.2021 hält Albert Coers einen Vor­trag zum Denk­mal für die Fami­lie Mann, auf der Online-Tagung „Vor Ort: Erin­ne­rung, Exil, Migra­ti­on“, Jah­res­ta­gung der Gesell­schaft für Exil­for­schung in Koope­ra­ti­on mit dem NS-Doku­men­ta­ti­ons­zen­trum Mün­chen, 3.–4.9.2021.

Die Jah­res­ta­gung 2021 beschäf­tigt sich mit Orten des Exils und der Migra­ti­on und ihrem Ver­hält­nis zu Erin­ne­rungs­kul­tu­ren und regt den Aus­tausch zwi­schen der Exil­for­schung und ande­ren For­schungs­rich­tun­gen an, die sich mit (erzwun­ge­ner) Migra­ti­on und Flucht befassen.

Mehr Infor­ma­tio­nen, Pro­gramm und Amel­dung hier.

Zürich: Erika Mann, Schilder und Arbeit

Foto: Stadt Zürich, Tiefbauamt

Nach lan­ger Coro­na-Pau­se wie­der Fahr­ten zu den Orten der Manns, in die Schweiz, zur Ent­ge­gen­nah­me von Leuch­ten und Schil­dern. Zwar lie­ße sich das per Post sen­den, doch fin­de ich es inter­es­sant, zu den Orten und Leu­ten (freud­scher Ver­tip­per: Leuch­ten) zu fah­ren, selbst wenn das mehr Arbeit macht. 

„Zürich: Eri­ka Mann, Schil­der und Arbeit“ weiterlesen

São Paulo II – Lux, ILUME, Material

In São Pau­lo woh­ne ich im Hotel Lux, pas­send zum Leuch­ten­pro­jekt.
Direkt davor befin­det sich ein Platz mit der Fon­te Monu­men­tal der Bild­haue­rin Nico­li­na Vaz, einem Mar­mor­brun­nen aus den 1920er Jah­ren, an des­sen Rand rie­si­ge Lan­gus­ten als Skulp­tu­ren hoch­klet­tern, zum Teil mit Gesich­tern von Men­schen. Nach­dem der Brun­nen lan­ge Zeit ver­wahr­los­te, Treff­punkt von Dea­lern war, Schlaf­platz von Obdach­lo­sen, hat die Stadt ihn in den letz­ten Jah­ren restau­riert und durch Schutz­wän­de aus Glas ein­ge­zäunt – was aller­dings die Pro­ble­me auch nicht gelöst hat. Nachts ist er zur Beleuch­tung, aber auch zur Über­wa­chung und Abschre­ckung in grel­les Schein­wer­fer­licht getaucht. Bizarr, die gan­ze Anla­ge, und auch etwas trau­rig: dass man öffent­li­che Kunst so unter einen Glas­sturz stel­len muss, und die Bron­ze­tie­re durch sol­che aus Glas­fa­ser erset­zen, weil sie sonst geklaut wer­den – und dass der wirt­schaft­li­che Druck so groß ist, dies zu tun. Das hat­te sich die Künst­le­rin wohl nicht so vor­ge­stellt. Aber das alles gehört zum The­ma „Kunst im öffent­li­chen Raum“. 

Mein Auf­ent­halt in São Pau­lo und die Rei­se ins­ge­samt geht dem Ende ent­ge­gen. Nun gilt es, zum Abschluss noch etwas Hand­greif­lich-Mate­ri­el­les nach Deutsch­land mit­zu­brin­gen, ähn­lich wie aus Nid­den: eine Leuch­te und/oder ein Schild. Das Beschaf­fen einer Ori­gi­nal­leuch­te aus der Rua Tho­mas Mann dürf­te, anders als im klei­nen, über­sicht­li­chen Nida in Litau­en, schwie­rig wer­den. Ich stel­le mir die tech­ni­schen Abtei­lun­gen die­ser Metro­po­le weit­ver­zweigt vor (man hat­te mich vor der Büro­kra­tie in Bra­si­li­en gewarnt) und noch kei­nen Kon­takt her­stel­len konn­te. Aber viel­leicht gelingt es trotz­dem, eine Leuch­te zu organisieren. 

Ich schrei­be an die Abtei­lung für Stra­ßen­be­leuch­tung, „Ilume“ bei der Stadt­ver­wal­tung São Pau­lo – und gehe dort vor­bei, in der Ave­ni­da Libe­ro de Bad­a­ro. Bekom­me am Emp­fang ein Besu­cher­schild, ähn­lich wie in Los Ange­les, und darf wie­der mit dem Auf­zug hin­auf­fah­ren. Vor dem Büro ein Fuß­ab­strei­fer mit den ein­la­den­den Schrift­zug „ILUME“. Mir gefällt der Kon­trast zwi­schen dem Wort für ‚Licht’ und dem schwarz-brau­nen Objekt mit den Buch­sta­ben auf dem Boden, an dem man sich die Füße abputzt.

Man hat mei­ne vor weni­gen Stun­den geschrie­be­ne Mail bereits gele­sen und erwar­tet mich, wie ich freu­dig über­rascht fest­stel­le. Die Namen der Mit­ar­bei­ter klin­gen für mich ita­lie­nisch-ver­traut. Wir dis­ku­tie­ren in einem Büro im Über­set­zungs­wech­sel von Eng­lisch und Por­tu­gie­sisch. Es scheint mög­lich, eine Leuch­te, wie sie in der Rua Tho­mas Mann steht, zu bekom­men, schnell und ganz unbürokratisch. 

Anschlie­ßend im Lauf­schritt in die Pre­feit­u­ra, ins Rat­haus, zum Tref­fen mit Bruce Scheidl Cam­pos, Res­sort „Inter­na­tio­na­le Bezie­hun­gen“, mit dem ich durch Ver­mitt­lung aus Deutsch­land in Kon­takt kam. Ein mäch­ti­ger Klotz mit Pfei­lern aus Kalk­stein, das Edifí­cio Mat­a­raz­zo oder Palá­cio do Anh­an­ga­baú, ent­wor­fen von Mar­cel­lo Pia­cen­ti­ni, einem Archi­tek­ten des ita­lie­ni­schen Neo­klas­si­zis­mus-Faschis­mus. Um dem Gebäu­de etwas von sei­ner Austeri­tät zu neh­men, hat man ihm einen Dach­gar­ten auf­ge­setzt und illu­mi­niert es nachts mit einem roten Leucht­strei­fen. Der Ein­gang ist von der Poli­zei mit Sicher­heits­band abge­sperrt. Innen eine rie­si­ge Hal­le, mit einer Kar­te Bra­si­li­ens und sei­ner Han­dels­gü­ter an der Wand. Eine geball­te Ladung staats­tra­gen­der Imponiergesten. 

Das Tref­fen selbst dage­gen ist nett. Bruce spricht auch Deutsch; sei­ne Groß­el­tern kamen aus Öster­reich; eine süd­ame­ri­ka­ni­sche Ein­wan­de­rungs­ge­schich­te, sie­he ja auch die Manns Gene­ra­tio­nen vor­her. Ich kann vom den Ver­hand­lun­gen mit ILUME berich­ten. Bleibt noch das Stra­ßen­schild „Rua Tho­mas Mann“. Bruce, obwohl eigent­lich von einer ganz ande­ren Sek­ti­on und sonst eher für die Anbah­nung von Han­dels­be­zie­hun­gen zustän­dig, ver­spricht, sich dar­um zu kümmern. 

Noch habe ich das Schild aller­dings nicht in der Hand und den­ke dar­an, es gleich an Ort und Stel­le abzu­schrau­ben. Ande­rer­seits – wäre das nicht eben­falls eine Ent­wen­dung öffent­li­chen Eigen­tums, ähn­lich dem Lan­gus­ten­klau an der Fon­te Monu­men­tal, nur mit gerin­ge­rem Mate­ri­al- und Kunst­wert? Und wer­den sich die Anwoh­ner nicht fra­gen, wo ihre Rua Tho­mas Mann geblie­ben ist? Nein, der Ehr­geiz soll­te sein, es auf offi­zi­el­lem Wege zu beschaf­fen, auch wenn es noch eini­ge Mona­te dauert. 

Dage­gen kann ich bereits ein paar Tage spä­ter, nach der Rück­kehr aus Curi­ti­ba, bei ILUME eine Schach­tel mit Lam­pe, Ersatz­bir­ne nebst tech­ni­scher Doku­men­ta­ti­on in Emp­fang neh­men. Und eine Beschei­ni­gung, dass es sich um einen Gegen­stand „sem valor comer­cial“ hand­le, falls man mich beim Zoll danach fragt. Für mich ist die­se Leuch­te aber höchst wert­voll. Erstaun­lich, was so ein indus­tri­el­les Mas­sen­pro­dukt, ein All­tags­ge­gen­stand, noch dazu schon län­ger in Gebrauch, auf ein­mal für einen ideel­len Wert bekommt. Schlep­pe die Lam­pe auf der Schul­ter durch die Stadt zum Hotel Lux. Es ist nicht weit und tut gut, end­lich ein Ergeb­nis in Hän­den zu halten. 

Dann steht und liegt die Leuch­te im Hotel­zim­mer. Sie ist wie ein Mit­be­woh­ner und nimmt Züge eines Robo­tor­we­sens an, mit dem Kör­per aus Metall, der kopf­ar­ti­gen ova­len Form, der Glas­schei­be vor­ne, die ein Gesicht sug­ge­riert, und den fili­gran-beweg­li­chen Kabelfortsätzen. 

Die Leuch­te will auch noch wei­ter trans­por­tiert sein.
Dazu kau­fe ich in einem Haus­halts­wa­ren­la­den in der Nähe einen leich­ten Klapp­kar­ren aus Alu, in einem ande­ren einen Gum­mi­ex­pan­der (zwei wären bes­ser gewe­sen). Auf der Suche nach Ver­pa­ckungs­ma­te­ri­al zum Aus­pols­tern der Schach­tel fin­de ich abends auf der Stra­ße Sty­ro­por und Kar­to­na­gen, Eier­kar­tons. Dabei gera­te ich anein­an­der mit pro­fes­sio­nel­len Samm­lern, Alt­pa­pier­händ­lern von der Stra­ße, die sich in ihrem Geschäfts­mo­dell ver­letzt füh­len. Sie mache sich die Hän­de schmut­zig, siche­re so ihren Lebens­un­ter­halt, setzt mir eine Frau ein­drück­lich aus­ein­an­der. Ich kau­fe ihr das Mate­ri­al schließ­lich ab, akzep­tie­re, dass auch das Weg­ge­wor­fe­ne und sei­ne Auf­be­rei­tung einen Wert hat. 

Am nächs­ten Mor­gen geht es zum Flug­ha­fen. Das Wägel­chen mit der Schach­tel rollt sich gut. Die Befes­ti­gung mit Gum­mi­span­ner, Plas­tik­strei­fen und Leu­ko­plast-Tape wirkt aller­dings ziem­lich impro­vi­siert. Aber der Ver­bund wird nicht bean­stan­det, ist ledig­lich als Sperr­ge­päck zu dekla­rie­ren. Die Leuch­te glei­tet auf ein Fließ­band, ver­schwin­det dann im Dun­kel hin­ter einem Vor­hang. Sie wird ihren Weg nach Deutsch­land fin­den, so hof­fe ich. Das tut sie auch, genau­so wie ich selbst, nach einer Zwi­schen­lan­dung in Bogo­tá – die eigent­lich nur 12 Stun­den dau­ern soll­te, sich aber zu einem Auf­ent­halt von meh­re­ren Tagen aus­wächst. Aber das ist eine ande­re Geschichte …

Curitiba – Straßen, Namen, Leuchtturm

Nachts im Bus nach Curi­ti­ba, einer Groß­stadt etwa sechs Stun­den von São Pau­lo Rich­tung Wes­ten, wo es eine wei­te­re Rua Tho­mas Mann gibt, die ich noch besu­chen will. Klas­se „Lei­ta“ („Bett“) – die Sit­ze las­sen sich fast bis zur Waag­rech­ten klap­pen, es ruckelt trotz­dem ganz schön. Freue mich dar­auf, dem Frei­tag-Fei­er­tags­be­triebs des Aller­hei­li­gen­ta­ges in São Pau­lo zu ent­flie­hen, in aller Frü­he (4.30) in einer Stadt anzu­kom­men, deren Name mir bis dahin unbe­kannt war.

Die Luft ist mild, küh­ler als in São Pau­lo, es zwit­schern Vögel, gro­ße Bäu­me am Bus­bahn­hof, ihr mat­tes Grün in der Däm­me­rung ange­nehm. Es wird Tag. Pas­tell­far­be­ne Hoch­häu­ser tau­chen auf, Schnell­stra­ßen. Curi­ti­ba scheint wie eine sau­be­re­re, grü­ne­re und klei­ne­re Ver­si­on von São Pau­lo (bei 1,7 gegen­über 12 Mil­lio­nen Ein­woh­nern), in der sich die Stadtu­to­pien der 1950er und 60er Jah­re ent­fal­ten konn­ten und nicht über­wu­chert wur­den. Hell­vio­let­te Blü­ten an den Bäu­men und auf dem Pflaster. 

War­ten auf einen Bus, neben einer Hin­weis­ta­fel zur Stadt­ge­schich­te, mit Kle­be­buch­sta­ben, die sich gelöst haben. Abge­blät­tert erge­ben sich neue Kom­bi­na­tio­nen und Wörter. 

Das Oskar-Nie­mey­er-Muse­um – mir bis­lang unbe­kannt und rie­sig, wie die Bau­wer­ke und Monu­men­te des Bra­si­lia-Archi­tek­ten all­ge­mein: ein auf einem Pfei­ler-Sockel schwe­ben­der Kör­per, durch zwei flach gespann­te und spitz auf­ein­an­der­tref­fen­de Bögen gebil­det, an den Sei­ten ver­glast, durch­aus beein­dru­ckend. Kei­ne Furcht vor gro­ßen Zei­chen und For­men, eine Archi­tek­tur-Skulp­tur. Viel­leicht zu viel „Zei­chen“. Auge-Sehen-Kunst-Muse­um – die Asso­zia­ti­ons­ket­te läuft mir zu glatt ab.

Mit einem Leih­rad, das gera­de jemand vor dem Muse­um abstellt, Rich­tung Rua Tho­mas Mann. Trick­reich: man darf sich nur inner­halb eines bestimm­ten Gebie­tes bewe­gen und nur dort das Rad abstel­len. Rad­le los, einem Rad­weg nach Nor­den ent­lang. Unter­wegs kom­me ich an einer Ansamm­lung nied­ri­ger weiß­ge­stri­che­ner Holz­häu­ser vor­bei, die an ein Schtetl erin­nert, ein Frei­licht­mu­se­um und zugleich Gedenk­ort an die pol­ni­schen Immi­gran­ten im 18. und 19. Jahr­hun­dert nach Bra­si­li­en (Bos­que João Pau­lo II.). Die­se Prä­senz euro­päi­scher Migra­ti­on, gera­de aus Mit­tel- und Ost­eu­ro­pa, lässt wie­der­um an die Fami­lie Mann den­ken, in der Tho­mas‘ Groß­va­ter müt­ter­li­cher­seits, Johan­nes Lud­wig Bruhns, von Lübeck nach Bra­si­li­en über­sie­del­te – ich hat­te über die­se Geschich­ten der Ein­wan­de­rung ja auch eini­ges in São Pau­lo erfah­ren, unter ande­rem im Gespräch mit Mat­thi­as Makow­ski und Jörg Hay­er vom Goethe-Institut. 

Hier in Curi­ti­ba führt der Weg zu einem Park und See. Wei­ter reicht die Zone nicht – abstel­len und zu Fuß wei­ter. Am Ran­de des Parks will ich abkür­zen und sto­ße auf einen Draht­zaun – ein Loch lässt mich durch­schlüp­fen. Dahin­ter Urwald – oder was ich mir dar­un­ter vor­stel­le. Der Boden dicht bewach­sen mit Far­nen und Gebüsch. Wie auf einem Bild von Tho­mas Struth. Angren­zend Grund­stü­cke, Mau­ern, Zäu­ne. Um her­aus­zu­kom­men, muss ich über einen klettern. 

Durch eine Gegend mit klei­nen und grö­ße­ren Vil­len. Danach wird es sehr länd­lich, nied­ri­ge ein­stö­cki­ge Häu­ser, neben der Stra­ße ein Bach mit Hüt­ten und Gär­ten. Hier haben sich als ers­te pol­ni­sche Ein­wan­de­rer nie­der­ge­las­sen, wie ich spä­ter erfah­re, und in der Tat könn­te man sich an ost­eu­ro­päi­sche Land­stri­che erin­nert fühlen. 

End­lich die Rua Tho­mas Mann, im Vier­tel Bar­reirin­ha, wie auf den Schil­dern qua­si als Unter­ti­tel steht. Unspek­ta­ku­lär, eine ganz nor­ma­le Stra­ße – und gera­de dar­in inter­es­sant. Die Stra­ße scheint „ein ganz klein wenig net­ter als die in São Pau­lo“. So schrieb mir nach einem vir­tu­el­len Rund­gang schon Fred­ric Kroll, Exper­te für die Fami­lie Mann, beson­ders für Klaus, und deren Rezep­ti­on. Und in der Tat, jetzt vor Ort wird das auch im Detail sicht­bar: Der Mast ist weni­ger brö­cke­lig, das Schild unzer­knautscht, in bes­se­rem Zustand als sein dor­ti­ges Pen­dant. Intel­li­gent die Anbrin­gung, die ohne Ver­schrau­bung auskommt. 

Gera­de als ich Fotos mache, nähert sich ein Auto mit offe­ner Heck­klap­pe, den Kof­fer­raum vol­ler Kar­tons, und hält an der Ein­mün­dung zur Haupt­stra­ße, unter dem Stra­ßen­schild. Per Laut­spre­cher wer­den Haus­halts­wa­ren wie Töp­fe, Pfan­nen ange­bo­ten. Ein­bruch der Gegen­wart und schö­ner Kon­trast zu „Tho­mas Mann“.

Der Mast am ande­ren Ende der Stra­ße ist sogar mit zwei Leuch­ten bestückt, die in unter­schied­li­che Rich­tun­gen wei­sen – und gan­ze Bün­del von Lei­tun­gen lau­fen auf ihn zu, füh­ren von ihm weg. Tho­mas Mann als Kno­ten­punkt im Bezie­hungs­ge­flecht, könn­te man frei asso­zi­ie­ren. Auch sein Name ist ein­ge­bet­tet in ein Asso­zia­ti­ons­feld: Die Nach­bar­stra­ße ist benannt nach einem Namens­vet­ter und euro­päi­schen Schrift­stel­ler­kol­le­gen, der frei­lich einer ganz ande­ren Epo­che ange­hört, Tho­mas Morus, Autor von „Uto­pia“. Viel­leicht lief die Aus­wahl der Stra­ßen­na­men tat­säch­lich über den glei­chen Vor­na­men und den Anklang des Nach­na­mens. Auch fun­gie­ren wei­ter über­wie­gend phi­lo­so­phi­sche Schrift­stel­ler wie Mon­tes­quieu und Vol­taire als Namens­ge­ber, und es könn­te sein, dass Tho­mas Mann hier in sei­ner Eigen­schaft eben weni­ger als Roman­cier denn als poli­tisch-phi­lo­so­phi­scher Schrift­stel­ler und Essay­ist gewählt wurde. 

Inter­es­sant in punc­to „Stadt­mo­bi­li­ar“ fin­de ich auch die Müll­stän­der vor den Häu­sern. Auf Metall­pfos­ten, um Abstand zum Boden zu schaf­fen und Rat­ten und Unge­zie­fer fern­zu­hal­ten, thro­nen skulp­tu­ra­le korb­ar­ti­ge Behäl­ter, in die man sei­ne Müll­tü­ten stel­len kann. Boden und Sei­ten­flä­chen sind orna­men­tal durch­bro­chen, was der Belüf­tung zugu­te kommt. Die Anwoh­ner haben die Stän­der vari­iert und ange­passt, sie sehen immer etwas anders aus. 

In der Nähe zeich­net sich hin­ter einer Schu­le und Bäu­men ein selt­sa­mes Bau­werk in leuch­ten­den Far­ben ab, ein Leucht­turm, wie man ihn hier im Bin­nen­land nicht erwar­ten wür­de. Es ist der „Farol do Saber Anto­nio Macha­do“, eine kom­mu­na­le Biblio­thek, ein­ge­rich­tet 1996. Von die­sen Turm-Biblio­the­ken hat die Gemein­de Curi­ti­ba über 40 im Stadt­ge­biet ver­teilt. Die Biblio­thek ist gleich­zei­tig auch Denk­mal für den spa­ni­schen Schrift­stel­ler Anto­nio Macha­do, 1875 gebo­ren, im sel­ben Jahr wie Tho­mas Mann! Inspi­riert ist der Bau inspi­riert vom legen­dä­ren Leucht­turm und der Biblio­thek des anti­ken Alex­an­dria, zwei ganz unter­schied­li­chen Ein­rich­tun­gen, die jetzt hier sym­bo­lisch ver­knüpft wer­den – was aber beson­ders inter­es­siert, da Stadt und Name für mich Aus­gangs­punkt meh­re­rer Recher­che­un­ter­neh­men und Instal­la­tio­nen waren, sie­he das Pro­jekt ENCYCLOPEDIALEXANDRINA. Die­se Bezug­nah­me lässt die hohe Bedeu­tung erah­nen, die man an einer Stadt­teil­bi­blio­thek bei­misst, ein Leucht­turm­pro­jekt gewis­ser­ma­ßen für das Stadt­vier­tel. Ein schö­ner Zufall, dass die Leuch­ten-Meta­pher sich in unmit­tel­ba­rer Nach­bar­schaft befin­det zu den Stra­ßen­na­men-Leuch­ten mit dem Namen Tho­mas Mann. 

Zurück zum Park, zum Rad, das da noch steht, dann wie­der in die Innen­stadt – mit einem Zwi­schen­stopp an einem monu­men­tal-pom­pö­sen Gra­nit-Denk­mal für die Unab­hän­gig­keit der Pro­vinz Paraná aus den 1950er Jah­ren (Platz des 19. Dezem­ber) – zum Bus­bahn­hof. Rück­fahrt nach São Pau­lo. Seh­ne mich nach Ruhe. 

Im Bus Noti­zen über Curi­ti­ba und das Gese­he­ne – doch dann stürzt word ab, die Datei ist ver­schwun­den. Nur noch vage Erin­ne­run­gen an einen Text und einen Auf­ent­halt, den ich viel spä­ter ver­su­che zu rekonstruieren. 

São Paulo, Rua Thomas Mann – wie hoch gehängt?

Von Los Ange­les nach São Pau­lo, auf der Suche nach den Manns, nach Stra­ßen­na­men und ‑leuch­ten. Zunächst hat­te ich gedacht, ein­mal auf dem ame­ri­ka­ni­schen Kon­ti­nent, fah­ren wir auch nach Süd­ame­ri­ka – und die Stre­cken unter­schätzt. Was auf der Kar­te nur eine Hand­span­ne ent­fernt scheint, sind in Wirk­lich­keit ca. 10 000 km Luft­li­nie. Auf dem Land­weg inner­halb des gesetz­ten Zeit­rah­mens kaum mög­lich – also doch wie­der ein Langstreckenflug.

Die Ent­fer­nung ist auch groß bezo­gen auf die Manns, ihre Bio­gra­phien und ihre Rezep­ti­on: In Nord­ame­ri­ka leb­ten und arbei­te­ten sie lan­ge Jah­re, wur­den teils auch US-Staats­bür­ger; Micha­el blieb dort, Eli­sa­beth ging nach Kana­da. Trotz die­ser Prä­senz haben sie kei­ne Spu­ren in Form von Stra­ßen­na­men hinterlassen. 

Auf dem süd­ame­ri­ka­ni­schen Kon­ti­nent dage­gen war von den Manns kaum jemand, und Tho­mas schon gar nicht. Trotz­dem gibt es meh­re­re Stra­ßen, die nach ihm benannt sind, unter ande­rem in São Pau­lo und Curi­ti­ba. Womit hängt das zusam­men? Wohl mit dem hohen Stel­len­wert von Lite­ra­tur in Süd­ame­ri­ka all­ge­mein und der Migra­ti­ons­ge­schich­te von Deut­schen zwi­schen die­sem Kon­ti­nent und Euro­pa im Beson­de­ren, wie sie gera­de in der Fami­lie Mann deut­lich wird: Manns Mut­ter Julia Sil­va-Bruhns stamm­te aus Bra­si­li­en, als Toch­ter von Maria de Sil­va, aus por­tu­gie­si­scher Fami­lie, und des Lübe­cker Kauf­manns Johann Lud­wig Bruhns, der nach Bra­si­li­en aus­ge­wan­dert war und dort, in São Pau­lo, eine Fir­ma gegrün­det hat­te. Nach dem Tod sei­ner Frau ging er mit sei­nen Kin­dern nach Lübeck zurück. 

In der Biblio­te­ca Mario de And­ra­de, der zen­tra­len Stadt­bi­blio­thek in São Pau­lo, ent­de­cke ich in der Sek­ti­on zur Geo­gra­phie Bra­si­li­ens, neben Wür­di­gun­gen bra­si­lia­ni­scher Fuß­ball­spie­ler, auch eine Bio­gra­phie der Brü­der Mann. Die gehö­ren also auch zur hie­si­gen (Kultur)Landschaft. Nigel Hamil­ton betont das bra­si­lia­ni­sche Erb­teil der Mut­ter und ihren Ein­fluss auf die lite­ra­ri­sche Kar­rie­re der Söh­ne, auch ihre poli­ti­sche Hal­tung: Gera­de Hein­rich habe viel von der Mut­ter geerbt, den kämp­fe­ri­schen, lei­den­schaft­li­chen, radi­ka­len Geist, wäh­rend Tho­mas eher dem Vater nach­ge­schla­gen sei … Nichts­des­to­trotz sind Stra­ßen nach Tho­mas, nicht nach Hein­rich benannt. 

Die Rua Tho­mas Mann in São Pau­lo ist eine Sei­ten­stra­ße im nörd­li­chen Quar­tier Casa Ver­de, wie­der ein­mal etwa andert­halb Stun­den Bus­fahrt vom Zen­trum aus, geprägt durch eine Mischung von klei­nen Läden, Restau­rants und Auto­werk­stät­ten. Von Ästhe­tik ist hier im prak­tisch-ange­wand­ten Sinn die Rede: „Este­ti­ca auto­mo­bi­lis­ta“ heißt eine Werk­statt, wo geschlif­fen und lackiert wird.

Tho­mas Mann befin­det sich in Gesell­schaft von bra­si­lia­ni­schen und inter­na­tio­na­len Schrift­stel­ler­kol­le­gen, wie dem por­tu­gie­si­schen Lyri­ker Arman­do da Sil­va Car­val­ho, nach dem die Haupt­stra­ße benannt ist, aber auch von Intel­lek­tu­el­len, die mit Spra­che ins­ge­samt zu tun hat­ten: eine Quer­stra­ße zuvor trägt den Namen des Espe­ran­to-Begrün­ders Zamenhof.

Es gibt zwei Arten von Stra­ßen­schil­dern: die offen­sicht­lich älte­ren an Haus­wän­den, mit einem wei­te­ren Schild mit Zusatz­in­for­ma­ti­on zur Per­son, hier „escri­tor“ und den Lebens­da­ten. Durch gel­ben Putz sind die Schil­der hier ein­ge­rahmt und teil­wei­se über­deckt, sehen aus wie fest­ge­mör­telt. Da sie so mit der Archi­tek­tur ver­bun­den sind, wäre es schwie­rig, sie in Mün­chen zu inte­grie­ren. Und in dem Fall, bei dem ich schon vor­ha­be, ein Schild an eine Wand anzu­brin­gen, der Rue Tho­mas Mann aus Paris, muss ich mich noch mit dem Denk­mal­schutz aus­ein­an­der­set­zen. Zum Glück gibt es aber auch die Vari­an­te der Schil­der an den Leuchten. 

Straßenschild in der Rua Thomas Mann

Das Stra­ßen­schild wei­ter unten ist arg zusam­men­ge­knickt und ‑gestaucht. Es sieht aus, also ob ein Olaf Met­zel hier zu Wer­ke gegan­gen sei, gewinnt aber gera­de in sei­nen Fal­tun­gen eine plas­tisch-dekon­struk­ti­vis­ti­sche Qua­li­tät, die mir sehr gut gefällt. Am liebs­ten wür­de ich es gleich mitnehmen. 

Wahr­schein­lich sind es hohe LKWs gewe­sen, die das Schild tou­chiert haben. Wie hoch ist es eigent­lich gehängt? Das inter­es­siert mich, auch im Hin­blick auf die Mün­che­ner Installation. 

In der Haupt­stra­ße gehe ich auf die Suche nach einem Werk­zeug zum Mes­sen. Im Laden einer alten Dame, die Kat­zen­fut­ter und Wasch­mit­tel anbie­tet, wer­de ich lei­der nicht fün­dig. In einem Geschäft für Haus­halts- und Hand­werks­be­darf (in Ita­li­en wäre es eine mestic­ce­ria) sehe ich Meter­stä­be, kür­zer als die euro­päi­sche Vari­an­te, dafür dicker. Ich ent­schei­de mich dann aber für ein gel­bes Metall­maß­band. Und mes­se am Mast her­um, mes­se, wie hoch das Schild mit dem Namen Tho­mas Mann gehängt ist. Gar nicht so ein­fach, denn das Band mit sei­nen drei Metern reicht nicht bis hin­auf. Es sind 3,40 Meter, damit höher als in München.

Coers beim Messen der Höhe des Thomas-Mann-Schildes

Früh gehen die Stra­ßen­leuch­ten an, etwa um halb sechs, noch vor der Däm­me­rung. Aller­dings nur in man­chen Stra­ßen­zü­gen, den Haupt­stra­ßen. Die Sei­ten­stra­ßen und damit auch die Rua Tho­mas Mann blei­ben noch unbe­leuch­tet. Es scheint sich um ein Ener­gie­spar­kon­zept zu han­deln, das bestimm­te Stra­ßen­zü­ge prio­ri­siert – so wie Flug­gäs­te in der 1. Klas­se das Essen zuerst bekom­men.   Ich dre­he meh­re­re Run­den, man kennt mich inzwi­schen im Vier­tel schon, und end­lich gehen auch die Leuch­ten in den Sei­ten­stra­ßen an, geben ein röt­lich-gel­bes Licht – bis auf die eine in der Rua Tho­mas Mann! Als ob sie sich bewusst ver­wei­gern wür­de. Das könn­te über­haupt ein wei­te­res Kon­zept sein, um Ver­bin­dung und Trans­fer zu ver­deut­li­chen: Jeweils die eine Lam­pe leuch­tet nicht – aber dafür ihr Pen­dant in Mün­chen! Das Licht wäre gleich­sam umge­schal­tet, umgezogen. 

Straßenleuchte Sao Paulo

Ich räu­me das Feld und hof­fe, in den nächs­ten Tagen von der Stadt­ver­wal­tung eine Leuch­te bekom­men zu kön­nen. Auf der Rück­fahrt durch die dun­keln­de Stadt schla­fe ich im Bus ein, trotz des Stop-and-Go im Feierabendverkehr. 

Halifax – Elisabeth Mann-Borgese, Land und Meer

Hali­fax – ich hat­te zunächst gezö­gert, dort­hin zu rei­sen, an die West­küs­te Kana­das, nach Neu­schott­land, von New York auf dem Land­weg etwa 1400 km ent­fernt. Dann aber, ein­mal auf dem nord­ame­ri­ka­ni­schen Kon­ti­nent, scheint es eine Gele­gen­heit, das Umfeld zu erkun­den, in dem Eli­sa­beth Mann Bor­ge­se, Tho­mas Manns jüngs­te Toch­ter (1918–2002, von Insi­dern EMB abge­kürzt), über 25 Jah­re gelebt hat. 

Karo­li­na Kühn vom Lite­ra­tur­haus Mün­chen, die 2013 eine Aus­stel­lung zu EMB kura­tier­te, nennt Kon­takt­per­so­nen in Hali­fax und bestärkt mich in der Rei­se­ab­sicht – bereits die Land­schaft dort sei es wert! 

Wel­ches Ver­kehrs­mit­tel ist ange­mes­sen? EMB, lei­den­schaft­li­che Auto­fah­re­rin, fuhr die Tour in den Nor­den das ers­te Mal in einem Rutsch von 16 Stun­den. Spä­ter nutz­te sie aber auch den klei­nen Flug­ha­fen von Hali­fax aus­gie­big. Ich beschlie­ße, hin zu flie­gen, zurück nach New York auf dem Land­weg zu rei­sen. Von oben sieht Nova Sco­tia sehr viel­ver­pre­chend aus.

Ich erkun­de zunächst die Gegend um Hali­fax, über­nach­te auf einer Halb­in­sel mit dem schö­nen Namen „Dead Mans Island“, zie­he an Buch­ten ent­lang, durch Wald, Gebüsch an Seen vor­bei, über blank­ge­scheu­er­te Gra­nit­flä­chen. Nach Wes­ten sind noch die Hoch­häu­ser der Stadt zu sehen. Auf der ande­ren Sei­te in der Fer­ne das Meer. 

Die Stra­ße, auf der ich nach einem Abste­cher in die fast men­schen­lee­re Umge­bung zwi­schen Stadt und Küs­te als ers­tes sto­ße – Prince­ton Road. Was für ein Zufall!

Von Prince­ton nach Hali­fax: So läßt sich ein Teil des Weges von EMB beschrei­ben: In Prince­ton kommt sie mit den Ideen einer Welt­re­gie­rung in Berüh­rung, mit poli­tisch enga­gier­ten Emi­gran­ten wie ihrem zukünf­ti­gen Mann Giu­sep­pe Anto­nio Bor­ge­se, die unter dem Ein­druck von NS-Regime und Faschis­mus z.B. die Kon­fe­renz „City of Man“ 1940 ver­an­stal­ten, an der auch Tho­mas Mann mit­wirkt, eine Welt­ver­fas­sung ent­wer­fen. Das Meer, zu dem Eli­sa­beth schon seit der Kind­heit eine enge Bezie­hung hat­te – sie­he die Auf­ent­hal­te an der Ost­see auf Nid­den – ist ihr das Gebiet, um die­se idea­lis­ti­schen Vor­stel­lun­gen umzu­set­zen. Sie setzt sich ein für Nach­hal­tig­keit und inter­na­tio­na­le Zusam­men­ar­beit, etwa im Club of Rome – als ein­zig weib­li­ches Mit­lied, ihrer Zeit in mehr­fa­cher Hin­sicht vor­aus. 1972 grün­det sie das Inter­na­tio­nal Oce­an Insti­tut (IOI). Fach­kennt­nis­se eig­net sich die stu­dier­te Musi­ke­rin nach Inter­es­se und Bedarf an – dar­in ihrem Vater nicht unähn­lich. Im Ver­lauf ihrer unkon­ven­tio­nel­len, heu­te so kaum mehr mög­li­chen Kar­rie­re kommt sie 1978 an die Del­housie-Uni­ver­si­tät in Hali­fax, immer­hin mit 60 Jah­ren, als Pro­fes­so­rin für inter­na­tio­na­les Seerecht. 

Zurück in der Stadt besu­che ich das IOI, in einem ver­gleichs­wei­se beschei­de­nen Holz­haus in der Nähe der Uni­ver­si­tät. Die Atmo­sphä­re ist fami­li­är. Made­lei­ne Cof­fen-Smout, Pro­gramm­lei­te­rin, Mike But­ler, Direk­tor, und Hugh Wil­liam­son, ehe­ma­li­ger Assis­tent EMBs, machen mich mit der Akti­vi­tät des IOI bekannt: es hat wenig direk­ten poli­ti­schen Ein­fluss, stellt aber ein umfang­rei­ches Netz­werk dar. Schwer­punkt ist das inter­na­tio­na­le Aus­bil­dungs­pro­gramm in poli­ti­schen Wis­sen­schaf­ten, inter­na­tio­na­lem Recht, Wirt­schaft und Manage­ment, Mee­res­kun­de. Die Kur­se haben Modell­cha­rak­ter, vie­le der Teil­neh­mer sind spä­ter an Schalt­stel­len tätig und ver­grö­ßern so das Netz­werk, das auf einen ver­ant­wor­tungs­vol­len Umgang mit den Resour­cen der Mee­re, auf ein glo­ba­les öko­lo­gi­sches und öko­no­mi­sche Bewusst­sein abzielt. 

Made­lei­ne hat Schau­ta­feln, Bil­der und Publi­ka­tio­nen zusam­men­ge­stellt, die mit EMB in Zusam­men­hang ste­hen. Dabei fällt auf, dass sie auf den meis­ten, beson­ders den frü­hen Fotos sehr männ­lich aus­sieht, laut eige­ner Aus­sa­ge aus­se­hen woll­te, mit kur­zen Haa­ren und erns­tem, extra fürs Foto auf­ge­setz­tem Blick. Und in der Tat, mit der weib­li­chen Geschlech­ter­rol­le hat­te EMB lan­ge zu kämp­fen, woll­te als Mann erschei­nen, sich auch leis­tungs­mä­ßig bewei­sen, etwa durch pia­nis­ti­sches Kön­nen, nicht zuletzt ihrem Vater Tho­mas Mann gegen­über. Das inter­es­siert mich beson­ders, da der Fami­li­en­na­me ja auch als Geschlechts­be­zeich­nung gele­sen wer­den kann und die Aus­ein­an­der­set­zung damit und mit ent­spre­chen­den bür­ger­li­chen Erwar­tun­gen in der Fami­lie eine Art Leit­mo­tiv dar­stellt, auch bei Eri­ka und Kat­ja. Hier wer­den Gen­der­gren­zen über­schrit­ten einer­seits phä­no­ty­pisch, im Sinn von andro­gy­nem Aus­se­hen, ande­rer­seits auch im Sinn von Eman­zi­pa­ti­on. Auch schwingt der Leis­tungs­ge­dan­ke mit – lei­tet der Name ‚Mann’ sich doch vom Über­na­men für einen tüch­ti­gen Men­schen ab.

Bil­der: Cover Hol­ger Pils/Karolina Kühn (Hrsg.): Eli­sa­beth Mann Bor­ge­se und das Dra­ma der Mee­re, Ber­lin 2012.

Hugh Wil­liam­son erzählt von EMB Tätig­keit und Per­sön­lich­keit: Sie ver­folg­te ihre Zie­le aus­dau­ernd und selbst­be­wusst, rief auch, wenn es etwa um die Rati­fi­zie­rung von inter­na­tio­na­len Abkom­men ging, beim ame­ri­ka­ni­schen Prä­si­den­ten an. Inwie­fern spiel­te ihr pro­mi­nen­ter Fami­li­en­na­me eine Rol­le? EMB scheu­te sich nicht, ihn ein­zu­set­zen („Mann? That is an inte­res­t­ing name“), wenn es dar­um ging, Zugang zu bekom­men und Mit­strei­ter für die Sache der Mee­re zu gewinnen.

Eine Stra­ße ist nach EMB in Hali­fax und auch sonst welt­weit nir­gends benannt – außer in Mün­chen, der Stadt, in der sie gebo­ren und auf­ge­wach­sen ist. Es gibt aber doch einen wei­te­ren Namens­trä­ger, ein Fort­be­we­gungs- und Trans­port­mit­tel, das in dem Ele­ment unter­wegs ist, für das sich EMB ena­gier­te: ein Schiff.

Ähn­lich­keit mit dem Aus­blick von einem Schiff hat­te der Blick aus ihrem häus­li­chen Arbeits­zim­mer vom Schreib­tisch nach drau­ßen aufs Meer, wobei das Gelän­der vor dem Fens­ter wie eine Reling wirkt. Den Gegen­stand ihrer Bemü­hun­gen vor Augen und Ohren zu haben, war ihr wich­tig, neben Unge­stört­heit und Konzentration. 

Foto: Peter Sib­bald, aus: Hol­ger Pils/Karolina Kühn (Hrsg.): Eli­sa­beth Mann Bor­ge­se und das Dra­ma der Mee­re, Ber­lin 2012, S. 184.

Am Nach­mit­tag fährt mich ein wei­te­rer freund­li­cher Mit­ar­bei­ter des IOI, Dirk Wer­le, zu EMBs ehe­ma­li­gem Haus in Sam­bro Head, ent­lang der Küs­te. Man fährt etwa eine hal­be Stun­de, durch die dünn­be­sie­del­te Gegend, die ich zuvor erkun­det hat­te. Freun­de und Geschwis­ter (etwa Golo) waren damals nicht unbe­dingt begeis­tert, dass sie sich so weit­ab vom Schuss nie­der­ge­las­sen hat­te, dort, wo wie jetzt, im Herbst bereits der Wind vom Atlan­tik her pfeift und im Win­ter schon mal die Lei­tun­gen ein­frie­ren. Aber EMB woll­te es so. 

Foto: Dirk Werle

Das Haus wirkt beschei­den, aber schüt­zend und gemüt­lich, mit zum Boden gezo­ge­nen Dächern, einer „A“-Konstruktion, jetzt etwas ver­wil­dert und ein­ge­wach­sen; EMB  starb ja bereits 2002. Die Haus­num­mer ist auf eine Holz­lat­te geschrie­ben, mit auf­ge­schraub­ter Leuch­te – von der aller­dings nur noch eine Fas­sung vor­han­den ist. Auch die Stra­ßen­leuch­te gleich gegen­über ist denk­bar ein­fach: ein Holz­mast aus einem Baum­stamm, der gleich­zei­tig als Trä­ger von Strom- und Tele­fon­dräh­ten dient, dar­an ein Ausleger. 

Der Kon­trast zu den Vil­len ihres Vaters ist ekla­tant, gera­de nach­dem ich kurz vor­her das Haus in Prince­ton gese­hen hat­te. Aber wen hät­te Eli­sa­beth beein­dru­cken, was hät­te sie reprä­sen­tie­ren sollen? 

Zwei Zita­te zu/von EMB sind mir noch im Gedächt­nis: „She was an ice­berg“ (Hugh Wil­liam­son), aner­ken­nend gemeint: unbe­irr­bar, ziel­stre­big unter­wegs, mit nur einem Bruch­teil des Volu­mens sicht­bar. Und: „It’s easier to get for­gi­ve­ness than per­mis­si­on“, das im Bezug auf ihre vie­len Pro­jek­te und Ver­su­che, auf Leu­te ein­zu­wir­ken und das zu bekom­men, was sie woll­te. Ich muss an das Denk­mal­pro­jekt den­ken, wo es ja auch viel um Geneh­mi­gun­gen gehen wird – da könn­te ich mir eine Schei­be abschneiden …