Im Juni 2019, also vor fast einem Jahr, war ich in Rom und Palestrina, um die nach Thomas Mann benannten Straßen zu erkunden, im Hinblick auf das Denkmal für die Manns in München. Im Rückblick auch interessant, wie selbstverständlich das Reisen und die Bewegung in öffentlichen Raum war – im Kontrast zur Jetztzeit, 2020.
Der Weg zu Thomas Mann ist ziemlich lang.
Die Straße, die nach ihm benannt ist, liegt an der Peripherie Roms. Mit dem Bus Nummer 916 dauert es 1 ½ Stunden – inklusive einer halben Stunde Warten – alle anderen Nummern ziehen mehrfach vorüber. Als der Bus endlich kommt, ist er voll besetzt, viele Pendler fahren vom Zentrum an den Stadtrand.
Die Straße liegt im Nordwesten, einem Viertel namens „Quartaccio“, auf einem Kamm zwischen flachen Tälern. Die abwertende Nachsilbe „-accio“ rührt wohl von den umliegenden feucht-sumpfigen Niederungen. In den Achtzigern als hoffnungsfroh-phantasievolles Wohnquartier angelegt, mit postmodernen Referenzen an den sozialen Wohnungsbau der 20er/30er Jahre, mit Gärten, Bogendurchgängen, Piazzen (als Parkplätze genutzt), gab es bald Probleme, Hausbesetzungen, Drogenhandel. Seit den 2000er Jahren hat sich die Situation mit dem Bau neuer Wohnblöcke und dem Zuzug weiterer Bevölkerungsgruppen verbessert – doch der Ruf haftet der Gegend noch an, und sie taucht auch immer wieder in Polizeiberichten auf.
Nach dem Aussteigen geht man über verwitterte Betoneinfassungen von trockenen Grünanlagen. An der Via Flaubert fällt eine Gruppe von Betonsäulen auf, die einen Platz gestalten, einen archäologischen Park evozieren sollen. Lange Zeilen ockerfarbig gestrichener Wohnblocks. Leute sitzen auf Plastikstühlen vor ihren Häusern – was an Neapel erinnert. Am Rand der Häuserzeilen Felder, Brachen, Schilfrohr, aus der Straße wird ein Feldweg, die Stadt scheint auszufransen, man sieht hinunter in ein Tal, erst in der Ferne drüben weitere Wohnblocks.
„In fondo, davanti alla chiesa“ beschreiben es zwei Mädchen, als ich nach der Via Thomas Mann frage. In der Tat steht ein Straßenschild mit diesem Namen unter einer hohen Leuchte, vor einer Kirche, geweiht der Hl. Faustina (denke gleich an Dr. Faustus). Sie ist ganz modern, mit weit auskragendem Metalldach auf schlanken Metallsäulen. Lediglich das Kreuz auf dem Dach und die Andeutung einer tempelartigen Dachzone weisen sie als Gotteshaus aus. Sie ist mit einem Sportzentrum verbunden. Hier trainiert die Basketballmannschaften Asd Romana (sharks) – eine erstaunliche Kombination, die aber zwei der großen sozialen Netze zusammenbringt, Kirche und Sportverein.
Thomas Mann aber stand beidem distanziert gegenüber. Er war protestantisch sozialisiert und begegnete kirchlich-obrigkeitlich verfasster Religiosität ironisch – siehe der Anfang der Buddenbrooks, wo Toni ein Katechismus-Kapitel herunterleiert. Und verblüffenderweise eben die Buddenbrooks begann er in Italien (zunächst gemeinsam mit seinem Bruder Heinrich), umgeben vom Katholizismus. Das Zusammentreffen in der Gegenwart fällt noch heftiger aus, wenn man das eindringliche Ave-Läuten von der Kirche hört, jeweils zur vollen Stunde, nach der Lourdes-Melodie. Um 18 Uhr hält ein Auto vor der Kirche, weißgekleidete Schwestern steigen aus. Zeit für den Gottesdienst. Das ist Rom. Der Kontrast ist also der größtmögliche. Der großbürgerliche Schriftsteller hier, in einem, vorsichtig gesagt, strukturschwachen Viertel. Das „Nordlicht“, der Lübecker und die Weltstadt im Süden.
Und doch geht das Zusammentreffen über eine Benennung hinaus, die nur den Kanon großer europäischer Schriftsteller abdecken würde: Thomas Mann hat als junger Mann tatsächlich in Rom gelebt – ob das den Straßennamenplanern bewusst war? Peter de Mendelssohn, von dem die Biografie „Der Zauberer“ stammt, nennt im Kapitel „Wartezeit in Rom“, auch die Adressen: Torre Argentina 34 und Via del Pantheon 57, 1897, immerhin acht Monate! Mann selbst beschreibt erwähnt seinen Aufenthalt mehrfach, unter anderem im Lebensabriß von 1904. Seine ehemaligen Wohnadressen liegen allerdings alle im Herzen der Altstadt, des centro storico, wo sich Touristen drängen. Dass die Römer dort, wo alles mit jahrhundertealten Bauwerken und Namen belegt ist, keine Straße nach dem deutschen Schriftsteller benannt haben, leuchtet ein.
Dagegen hier, an der Peripherie, war Platz und auch die Hoffnung, mit den Namen das Bauprojekt kulturell aufzuwerten und positiv zu besetzen, mit den Namen auch die verbindende europäische Kultur zu betonen. So konzentrieren sich hier die großen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts aus Frankreich und den nördlichen Ländern: die Endhaltestelle ist nach Andersen benannt, es gibt eine Via Fratelli Grimm, Thomas Mann trifft sich, nicht unpassend, mit Flaubert, Sand, Zola. Er wird damit eher mit dem 19. als dem 20. Jahrhundert in Verbindung gebracht, einen Traditionszusammenhang, den er selbst immer wieder betonte.
Es fällt auf, dass die „Kollegen“ sonst meist durch ihre Nachnamen präsent sind. Von der Systematik der Stadtpläne her gedacht, ist das nachvollziehbar: Man vermeidet so das Dilemma, ob nach Vornamen (so in Straßenverzeichnissen im allgemeinen) oder Nachnamen zu sortieren sei. Thomas Mann aber ist durch Vor- und Nachname vertreten. Darin zeigt sich, dass es eben nicht nur einen Schriftsteller„Mann“ gab, sondern mehrere, dass es der Ergänzung bedarf, um innerhalb der Familie das Individuum zu bezeichnen. Und man denkt dabei sicher an Heinrich, der dann auch die Beschränkung auf die Familie von Thomas Mann selbst sprengt.
Mit ihm war Thomas zusammen in Rom – und zwei Sommer lang in Palestrina, einer kleinen Stadt, etwa 40 km von Rom entfernt. Dort gibt es ebenfalls eine Via Thomas Mann. Und dort, das ist interessant, treten die Brüder Mann zusammen auf, man hat man auch Heinrichs mit einer Benennung gedacht. Dorthin soll die nächste Ortserkundung gehen.
Palestrina – die ungleichen Brüder
Nach Palestrina dauert es etwa genauso lange wie zum römischen Quartaccio, nur in die entgegengesetzte Richtung, nach Osten: Anderthalb Stunden, mit der Metro bis zur Endhaltestelle „Anagnina“, dann mit einem Überlandbus durch das Weichbild Roms, das irgendwann in die Campagna übergeht, mit Stopps in kleinen Ortschaften wie Zagarolo.
In Palestrina ist die Benennung „Via Thomas Mann“ durch einen tatsächlichen Wohnsitz in ebendieser Straße gedeckt, es ist damit der seltene Fall, wo Name und Aufenthalt zusammenfallen: 1895 wohnten Thomas und Heinrich hier in einer Pension, in der Sommerfrische des im Vergleich zu Rom hochgelegenen und kühleren Ortes, von dem aus man in die Ebene hinuntersieht. Der Straßenname am Aufgang der treppenartigen Gasse, die von der Piazza neben der Kirche aus steil hinaufführt, ist als Mosaik ausgeführt – in Anspielung auf die Mosaike in den Ausgrabungen des antiken Preneste. Thomas Mann ist damit in die Geschichte, die Archäologie des Ortes hineingeholt, zählt dazu wie die römischen Funde im Museo Archeologico gleich nebenan. Leitungen und Rohre daneben und darunter stellen die Verbindung zur Gegenwart her.
Die Steintafel weiter oben ist im Stil der Gedenktafeln gehalten, wie man sie in ganz Italien findet: In großen Lettern der römischen Kapitalschrift in Stein gemeißelt, schwarz nachgezogen. Die Inschrift betont die Länge des Aufenthalts, ordnet ihn zeitgeschichtlich ein mit dem Verweis auf das Ende des 19. Jahrhunderts – und deutet seinen Zweck mit einem gewissen Pathos psychologisch: „alla ricerca di se stessi“ – „auf der Suche nach sich selbst“. Interessant ist außerdem ein typographisches Detail: Der Abstand zwischen „Thomas“ und „Mann“ ist ziemlich groß; man wollte so dafür sorgen, dass die Vornamen, die in unterschiedlichen Zeilen stehen, sich enger miteinander verbinden, sich klar vom Familiennamen absetzen und man nicht liest „Heinrich“ und „Thomas Mann“, womit allein Thomas zum Vertreter der Familie Mann geworden wäre …
Um die Ecke gibt es eine Infotafel auf einem Metallständer, eine Station auf dem archäologischen Rundweg des Ortes. In Palestrina finden sich damit am meisten Informationen. Das Bild Heinrich Manns darauf hat sich besser erhalten als das Thomas’.
Ganz gleich sind die Brüder auch bei der Benennung nicht davongekommen: einige Stufen weiter oben auf der Via Thomas Mann stößt man auf den Largo Heinrich Mann mit einer aufgeständerten Travertintafel. „Largo“ ist etwas viel gesagt, es ist ein kleiner Park mit Terrassen, mit Sitzbänken, Pinien, Rosen, der ganz nett ist, gegenüber der Via Thomas Mann aber buchstäblich doch etwas abfällt. Dieser Gegensatz fiel auch dem Architektur- und Kulturhistoriker Erik Wegerhoff auf, als er auf seinem zeitgenössischen Nachvollzug der Grand Tour per Vespa 2005 nach Palestrina kam, also gerade als die Hommage an die Brüder Mann fertig war. Ironisch stellt er fest: „Die Via Thomas Mann war frisch geschrubbt, der Largo Heinrich Mann natürlich etwas schmuddelig.“(Auf der Suche nach dem verlorenen Kanon. Reflexionen über die zeitgenössische Grand Tour, in: Joseph Imorde, Jan Pieper (Hg.): Die Grand Tour in Moderne und Nachmoderne, S. 248f).
Die Via Thomas Mann nimmt am Absatz, an dem der Largo Heinrich Mann liegt, nochmal eine Wendung, weiter hinauf, und hier findet sich ein weitere Benennungstafel, was die Balance in der Namens-Präsenz der Brüder Mann noch weiter zugunsten Thomas‘ verschiebt. Das liegt vielleicht auch daran, dass Thomas Mann Palestrina explizit in seinem Roman Dr. Faustus als Aufenthaltsort des Protagonisten Adrian Leverkühn wählt, dem Ort damit literarischen Ruhm sichert: Hinter einer dieser Türen, in einem auch im Sommer kalten Gewölbesaal, findet die Begegnung Adrians mit dem Teufel statt, in der ihm dieser musikalische Genialität und künstlerische Schaffenskraft verspricht …
Die Palestriner dankten es ihm.
Ein Gedanke zu „„Auf der Suche nach sich selbst“ – Rom und Palestrina“
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