Von New York aus nach Princeton, etwa anderthalb Stunden mit dem Zug. Thomas Mann hatte hier 1938–40 eine Gastprofessur, hielt Vorlesungen zur deutschen Literatur – und auch über seine eigenen Schriften, über den Zauberberg und zum Thema des Autobiographischen.
Mein Cicerone auf dem Campus und in der Stadt ist Stanley Corngold, langjähriger Professor für deutsche und vergleichende Literaturwissenschaft; er hat, unter anderem, über Kafka publiziert, den Werther neu übersetzt, steckt voller Geschichten und schreibt gerade an einem Buch zu Manns Aufenthalt in Princeton.
Er vermittelt auch einen Gang in den wohlbehüteten Rare Book Room, das Archiv, wo Briefe, Manuskripte etc. von und zu Thomas Mann lagern – das er selbst allerdings bislang eher selten konsultiert habe: „First you write your book, then you do your research.“
Diesen paradox-provokativen Satz finde ich sympathisch. Thomas Mann, der erst nach langem Materialsammeln und Exzerpieren mit dem eigentlichen Schreiben begann, siehe etwa Lotte in Weimar oder Joseph und seine Brüder, hätte ihn wohl nicht unterschrieben. Aber für den Bereich des wissenschaftlich-essayistischen Schreibens deckt er sich mit meinen Erfahrungen: wenn man sich gleich am Anfang mit dem Lesen von Kilometern von Sekundärliteratur oder speziellen Archivalien aufhält und entdeckt, was es schon alles gibt, verliert man schnell die Lust oder auch den Überblick. Besser ist es, etwas Eigenes zu formulieren, durch Auseinandersetzung mit dem Gegenstand herauszufinden, was einen interessiert, was für Thesen sich entwickeln lassen – und die am Ende mit den Ergebnissen Anderer und mit Quellen abzugleichen, zu erweitern, gegebenenfalls zu korrigieren. Allfällige Dubletten an Ideen und Erkenntnissen lassen sich so wenigstens als selbst erarbeitet verbuchen.
Das kann man mit künstlerischen Prozessen vergleichen: Erst einem Impuls folgen, einen Entwurf, eine Arbeit machen, und dann recherchieren, was es in dieser Richtung gibt. Gerade im konzeptuellen Bereich wird man oft feststellen: etwas Ähnliches wurde schon gemacht. Häufig zeigt sich aber auch: was man gerade produziert hat, unterscheidet sich in dem und dem Punkt davon, steht in einem anderen Zusammenhang. So erging es mir mit dem Entwurf für das Denkmal: Nach und nach stieß ich auf Arbeiten mit Leuchten im öffentlichen Raum, etwa von Mischa Kuball, Maik und Dirk Löbbert, Michael Sailstorfer, Sonja Vordermaier. Doch der Kontext des Denkmals und die Kombination mit Straßenamen bot Raum für Differenz.
Beim Gang über den Campus fallen die Leuchten mit ihren weißen Hauben auf – was ihnen zusammen mit den Querstangen ein anthropomorphes, etwas schutzmannhaftes Aussehen verleiht. Sie sind hier als Plakatständer verwendet, für Veranstaltungen der Uni, Konzerte, Lesungen, Workshops. Das nimmt ihnen etwas von ihrer historischen Campus-Würde, holt sie in die Gegenwart. Der Begriff ‚Zweckentfremdung’ fällt mir ein: Sie haben zwar Querstangen zum Aufhängen von Blumenkübeln, aber dass Plakate an ihnen aufgespannt werden könnten, daran haben die Entwerfer sicher nicht gedacht.
Zum Haus an der Stockton Street Nr. 65, wo Mann gewohnt hatte. Auf dem Weg dorthin vorbei am „Monument Drive“. Der Name ist im Zusammenhang mit dem Mann-Denkmal interessant: Er verweist auf das Denkmal einer Schlacht des amerikanischen Unabhängigkeitskriegs in der Nähe, massiv, pathosgeladen, aus Marmor. Gerade von solchen soll sich das Denkmal an die Familie Mann abheben, eben nicht schwergewichtig, sondern eher leicht und mit Bezug zum alltäglichen urbanen Stadtmobiliar daherkommen.
Die Villa, die Thomas Mann und Katia bewohnten, hat ihrerseits etwas Repräsentativ-Monumentales an sich: ein wuchtiger, langgestreckter Flügelbau des Neoklassizismus, mit breit schirmendem Dach. Er ist gegenüber dem Straßenniveau höher gesetzt, eine Treppe führt zu ihm hinauf, mit einer Backsteinmauer eingefasst. Weiter abgeschirmt ist das Haus durch einen Garten, einer Hecke zur Straße hin und wuchtig-hohe Nadelbäumen, die wie Wächter dastehen, und das Schild „PRIVATE RESIDENCE“ unterstreichen. Auch der gegenwärtige Bewohner liebt Privatheit.
An der Backsteinmauer eine Gedenktafel „THOMAS MANN LIVED HERE 1938–1941“ aus den 1960er Jahren, die in ihrer Lakonizität und Schlichtheit wie ein nobles Understatement wirkt, gleichzeitig mit den in Stein gehauenen Großbuchstaben, der symmetrischen Anordnung und der klassischen Schrifttype, wie man sie etwa auch am Trajansbogen findet, der Capitalis Monumentalis, den Charakter eines römischen Epitaphs hat – und dadurch auch etwas Monumentales.
Im Rare Book Room. Vor mir Blätter, bedeckt von der Handschrift Thomas Manns, anlässlich der Verleihung eines Ehrendoktors in Princeton. Schwer zu lesen – und die Frage, was sie bedeuten, welchen Sinn es hat, sie anzusehen.
Die unterschiedlichen Grautöne der Tinte, nach dem Eintauchen jeweils dunkler. Nur manchmal durchgestrichen, in entschiedenen Zügen. Beim Schauen auf die flirrenden, leichten, regelmäßigen Zeichen: vielleicht überträgt sich etwas von der Energie in Bewegung, in Schrift?
Oben in lateinischen Buchstaben hinzugefügt die Widmung Thomas Manns – im Gegensatz zu seiner normalen, „deutsch“-geprägten Schreibschrift. Fremdheit der Schrift – Abstand der Zeit. Wo lässt sich da die Brücke schlagen?
In Princeton überschneiden sich die Zeiten. Und es begegnen sich Menschen, Ideen. In der Lounge der Bibliothek macht Stanley mich auf eine ältere Dame aufmerksam: Ob ich Gerda Panofsky kennenlernen wolle? Panofsky, der Name ruft Erinnerungen an Schule und Studium wach: Saturn und Melancholie, herausgegeben von Raymond Kilbansky, Erwin Panofsky und Fritz Saxl, die erste Berührung mit ideen/kulturgeschichtlicher Kunstgeschichte. Gerda weiß auch auf Anhieb die ehemalige Wohnadresse Albert Einsteins in Princeton, nach der wir vergeblich gesucht hatten. Die Emigration – und die Ausstrahlung der Universität und der mit ihr verbundenen Personen – führte sie alle hierher.
So steht Princeton nicht nur zu Thomas und Katia in Beziehung: Hier heirateten 1939 die jüngste Tochter, Elisabeth, und Giuseppe Antonio Borgese, emigrierter Schriftsteller und Hochschullehrer. Über Borgese und die befreundeten Zirkel in Princeton (u.a. den Kreis um Erich Kahler und Hermann Broch) kam Elisabeth verstärkt mit Idealen einer neuen Weltordnung, internationaler Zusammenarbeit, ja einer Weltregierung in Berührung, die sie in ihrem Engagement für den internationalen Schutz der Meere und ein überstaatliches Seerecht verwirklichte – was sie dann später an die Delhousie-Universität führte, in Halifax/ Neuschottland.
Dorthin soll die nächste Reise gehen.
Ein Gedanke zu „Princeton – Research, Handschriften und Wohnorte“
Kommentare sind geschlossen.