„Tief ist der Brunnen der Vergangenheit“. So beginnt Thomas Manns Roman „Joseph und seine Brüder“. Und tatsächlich wird für das Denkmal für die Familie Mann und seine Fundamentierung in die Tiefe gegraben, es finden archäologische Untersuchungen statt, Bodenproben werden entnommen .… Seit 22.9.25 ist auf dem Salvatorplatz wieder Baubetrieb.
Flashback zum Prozess der Ideenfindung: In München setze ich 2018 meine Recherche zu den Straßenschildern der Manns fort. In den 2000ern wurden dort eine Reihe von Straßen und Plätzen nach den Kindern der Manns benannt. Das hängt wohl zusammen mit der gestiegenen Popularität der Familie nach der Verfilmung ihrer Geschichte durch Heinrich Breloer 2001, mit verstärkter wissenschaftlicher Beschäftigung, aber auch mit dem Bemühen der Stadt München, verstärkt Frauen bei der Benennung von Straßen zu berücksichtigen und dadurch sichtbar zu machen.
Ich finde immerhin fünf Mitglieder der Familie (mit Heinrich wären es sechs): Thomas Mann in Bogenhausen, Klaus und Erika am Arnulfpark, Elisabeth ganz im Osten und Golo ganz im Westen. Diese weitgestreckte Verteilung bringt mich auf die Idee, die Mitglieder über die Schilder zusammenzuholen und von der Peripherie ins Zentrum, an den Salvatorplatz in der Altstadt zu bringen.
Was in München weiter auffällt: Die Schilder sind an Straßenleuchten angebracht, anders als in Berlin. Daraus entwickelt sich die Idee, sie mitzunehmen, als charakteristische Bestandteile des öffentlichen Raums, die jeweils unterschiedlich ausfallen und, ähnlich wie die Schilder, viel über ihren Standort erzählen.
Die Orte liegen weit auseinander, wie man auf einem Stadtplan sehen kann. Um sie zu markieren und auch die Objekthaftigkeit der Leuchten mit hineinzunehmen, stecke ich Nägel mit breiten Köpfen in einen Plan. Sie reflektieren das Licht, „leuchten“.
Thomas-Mann-Allee, Bogenhausen
In München liegt die nach Thomas Mann benannte Straße im großbürgerlichen Stadtteil Bogenhausen, geprägt durch Villen und großzügige Einfamilienhäuser. Auch dieses Umfeld ist ein Unterschied zu Berlin, wo Wohnblocks und kommunale Bauten vorherrschend waren. „Allee“ heißt es hier, im Gegensatz zum prosaischen „Straße“; sie verläuft parallel zur Isar, ruhig über dem Fluss, von dem sie ein parkähnlicher Grünstreifen trennt, dessen Bäume sich über die Straße wölben. Auf der anderen Seite Gärten mit ausladenden alten Bäumen. Umbenannt wurde die Föhringer Allee, 1956, bereits ein Jahr nach dem Tod Thomas Manns. Dies zeigt, dass man sich der Bedeutung Thomas Manns bewusst war.
Das Schild ist groß und breit, vermittelt Solidität und Dauerhaftigkeit: Die Schrift ist in Emaille aufgebracht, Farbe als glasartige Schicht aufgeschmolzen – was eine harte, glänzende Oberfläche ergibt. Es ist von der Mitte aus leicht gewölbt, wirkt dadurch plastisch – und funktional läuft das Wasser von dieser gespannten Fläche gut ab. Die Schrift ist von einer Kartusche umrahmt, womit Historisch-Barockes anklingt.
Die Leuchte, an der das Schild angebracht ist, strahlt ebenfalls etwas Klassisch-Solides aus, mit der schlichten, kantigen Form, erinnert an das Design der 1950er Jahre und hat die schöne Typen-Bezeichnung „Bavaria“. Beim Besuch gefallen mir die Spinnweben zwischen Leuchte und Schild. Interessant ist das Schild dort auch, weil es in direktem Zusammenhang mit dem zentralen Lebensort der Familie steht: hier wohnten die Manns fast 20 Jahre lang, hier schrieb Thomas Mann u.a. den Zauberberg. 1913 ließen sich Thomas und Katia eine Villa bauen. Sie hat eine wechselvolle Geschichte, voller unterschiedlicher Nutzungen, Zerstörungen, Rekonstruktionen: Sie wurde im 2. Weltkrieg stark beschädigt, abgerissen, durch einen Bungalow ersetzt. 2001 ließ der in München geborene Alexander Dibelius, Banker bei Goldman-Sachs, die Fassade rekonstruieren, das Haus innen jedoch umbauen. Der Investor Thomas Manns erwarb die Villa schließlich 2015. Man kann sich vorstellen, dass dabei die Namensähnlichkeit eine Rolle gespielt hat – insofern passt dieses Detail auch zum Denkmal Straßen Namen Leuchten und der Anziehungskraft von Namen. An der Mauer der Villa erinnert eine Tafel erinnert an ihre Geschichte – und gerade stehen Leiter und Hochdruckreiniger vor ihr – sie wird offensichtlich gesäubert, vielleicht hatte sich jemand durch die weiße Fläche zum Hinterlassen eines Schriftzugs herausgefordert gefühlt …
Erika und Klaus – an den Gleisen – Arnulfpark
Erika und Klaus liegen ganz nach beieinander, als Geschwisterpaar, in einem 2004 auf dem ehemaligen Gelände der Deutschen Bahn angelegten Neubaugebiet, dem Arnulfpark. Hier, entlang der Gleisstrecke, zwischen Hacker- und Donnersbergerbrücke und der Arnulfstraße, war noch Platz, so dass dieser Ort relativ zentral liegt – auch wenn er durch seine Lage nicht so wirkt und immer noch etwas von „uncharted territory“ hat. Vielleicht passt die Nähe zu Gleisen und Bahnhöfen nicht schlecht, waren die Geschwister doch viel unterwegs (wenn auch häufiger mit dem Auto). Hier sind die Nachbarn z.B. Lilli Palmer, Marlene Dietrich und Bernhard Wicki. Erika ist damit mit Schauspielern ihrer Generation zusammengebracht, gleichzeitig damit auf ihre „Rolle“ auch festgelegt, sie, die so vieles war: Kabarettistin, Schriftstellerin, politische Aktivistin, Herausgeberin der Schriften ihres Vaters … Die Leuchten sind funktional-modern, entsprechend der Bauzeit, und so könnte man auch hier einen Generationenunterschied zur Leuchte des Vaters in Bogenhausen ausmachen.
Elisabeth Mann Borgese – Baustelle – Riem
Elisabeth Mann Borgese war das jüngste Kind der Manns. Die 2004 nach ihr benannte Straße liegt in einem Baugebiet in der Nähe des ehemaligen Flughafens Riem, der heutigen Messe; ich fahre mit dem Rad dorthin, brauche etwa 1 ½ Stunden (so lange wie in Rom zur Via Thomas Mann). Als ich das Schild fotografiere, fragen Bauarbeiter misstrauisch, was ich da mache, in wessen Auftrag, das Fotografieren der Baustelle sei verboten. Nur mit Mühe kann ich sie davon überzeugen, dass es mir allein um die Schilder geht … Aber das ist auch eine Erfahrung, die zur Arbeit im öffentlichen Raum gehört: Man muss sich mit den Leuten vor Ort auseinandersetzen. Dem Neubaugebiet entspricht das Design der Leuchte, die noch etwas mimimalistischer auftritt als die von Erika und Klaus, mit Glaszylinder und aufgesetzter Reflektorscheibe.
Auf den Schildern ist der Name „Mann“ stets präsent. Im Fall von Elisabeth dominiert dieser Familienname gegenüber den Vornamen, der abgekürzt wird: „Elis. Mann – Borgese“; Das hat natürlich technisch-funktionale Gründe, da der Name, voll ausgeschrieben, zu lang wäre und mit der maximalen Zeichenzahl für Straßenbenennungstafeln (so die offizielle Bezeichnung) in Konflikt käme.
Dabei ist gerade Elisabeth sehr eigenständig, als Anwältin der Rechte der Meere und Mitglied des Club of Rome. Elisabeth, ist hier mit der Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Selma Lagerlöf zusammengespannt – obwohl sie einen nicht-literarischen Beruf hatte – in der Familie Mann die Ausnahme. Geschrieben hat sie natürlich trotzdem!
Golo in Freiham – Neubau, Westen und Bundesrepublik
Die Straße, die nach Golo benannt ist, liegt ganz in entgegengesetzter Richtung, schon außerhalb des eigentlichen Stadtgebiets, im Westen, in Freiham. Dort entsteht ein komplett neues Viertel. So neu, dass es bei meinen Besuchen 2018/19 zwar schon provisorische Masten aus Holz gab, aber der Straßenname noch nicht angebracht war – wurde der Beschluss der Benennung doch erst kurz vorher gefasst, 2017. Insofern laufen die Erstellung des Denkmals und der Straße parallel. Diesen Moment beschließe ich in das Denkmal zu übernehmen, und auch dort einen Holzmast zu verwenden, was das Provisorische einfängt und die Vielfalt an Materialien und Konstruktionen erhöht. Auch das Schild fügt mit „Weg“ den Ortsbezeichnung eine neue Variante hinzu. „Weg“ deutet das Schmalere, weniger Befestigte, eher zu Fuß Begangenene als Befahrene an. Assoziativ passt das zum leidenschaftlichen Wanderer. Golo ist hier per Straßennamen mit Persönlichkeiten des Nachkriegszeit in Verbindung gebracht, vor allem der deutschen, in seiner Rolle als Historiker, Publizist und Kommentator des Zeitgeschehens: Mit Ellis Kaut, Hans Clarin, Erich Kästner oder Helmut Schmidt, dessen Name schon auf einem der Schilder zu lesen ist. Die Lage im Westen (der Republik) passt dazu. Das Neubauviertel wird aber eher fertig sein als das Denkmal – soviel zeichnet sich 2024 ab – das dadurch seinerseits eine Situation festhält.
Zurück zu den Anfängen: Im Juni 2018, vor sechs Jahren also, radelte ich zur Thomas-Mann-Straße in Berlin. In meinem handschriftlichen Tagebuch steht als Résume: „Idee für Denkmal verfestigt sich: Straßenschilder.“ Beim Besuch ging es zunächst aber nur um ein erstes Sammeln von Ideen, um eine Anregung durch den Ort. Ich hatte gesehen, dass es dort, neben der Straße, ein nach Thomas Mann benanntes Schwimmbad gibt; und vielfältige Assoziationen stellten sich ein: Schwimmen‑Wellen‑Wasser‑Tod in Venedig‑Tadzio …
Die Straße liegt im ehemaligen Ost-Berlin, im Prenzlauerberg, zweigt ab von der Greifswalder, Richtung Weißensee. Sie wurde 1976 nach Thomas Mann benannt, also zu DDR-Zeiten. Diese Verortung lässt sich auch erinnerungspolitisch an den weiteren Straßenbenennungen, an den Nachbarn von Thomas Mann ablesen: Am selben Pfosten ist der Name des Komponisten Hanns Eisler angebracht. Er floh wie Mann vor dem Nationalsozialismus, emigrierte in die USA. Beide kannten sich, trafen sich im Exil, hatten teils ähnliche Interessen, z.B. am Faust-Stoff. Insofern ergibt eine räumliche Nähe Sinn. Die politische Zuordnung Thomas Manns wird aber noch deutlicher, wenn man sich das weitere Umfeld ansieht:
Jenseits der Greifswalder setzt sich die Straße in der Erich-Weinert-Straße fort, benannt nach dem Schriftsteller, der während des NS-Regimes u.a. in die Sowjetunion emigrierte und nach seiner Rückkehr in der DDR Funktionärsrollen übernahm.
Thomas Mann, dessen politische Verortung nicht ganz einfach war, zwischen Konservatismus und Sozialismus, ist also in einen ganz bestimmten Zusammenhang von linken, antifaschistischen „Kulturschaffenden“ und Zeitgenossen gestellt. In jeder Stadt, das wird sich noch bei den weiteren Recherchen und Reisen zeigen, sieht dieser Kontext anders aus, mal sind es internationale Schriftstellerkollegen, wie Gustave Flaubert und George Sandes in Rom, mal ist es der Kreis der Familie wie in München, wo es auch biographische Anknüpfungspunkte gibt. Diese Zusammenhänge und Nachbarschaften sind Teil der Gedächtniskultur. In Straßenschildern und den Namen der Persönlichkeiten auf ihnen drückt sich Wertschätzung aus – aber auch politische Setzung und zeitgebundene Mentalität.
Ein Straßenname steht außer solchen bewußten Arrangements und Konzepten der Anordnung im alltäglichen urbanen Umfeld, wird durch es beeinflusst, überlagert. Es ergeben sich skurril anmutende Beziehungen; so steht in Berlin der Straßenname im Schatten eines riesigen roten dreidimensionalen Hinweispfeils auf eine Apotheke. Literatur als Heilmittel, könnte man assoziieren. Straßenschilder sind zunächst funktionale Zeichen, zur Orientierung, zur Angabe einer Adresse. In Berlin finden sich Hausnummern unter dem Namensschild, um eine Straße in Abschnitte zu gliedern. Wenn man es aus diesem funktionalen Zusammenhang löst, es freistellt, so dämmerte es mir später, tritt die Gedächtnisfunktion klarer hervor.
Interessant, da orts- und zeittypisch, ist auch die typographische Gestaltung: Schwarz auf Weiß, im Gegensatz zu der in den meisten Städten, etwa in München, verwendeten Variante Weiß auf Blau, eine serifenlose Schrift, was Strenge und eine gewisse Härte vermittelt. Die Schrifttype ist speziell, elegant, mit dem scharf-eckigen „ß“, an dem die Zusammensetzung aus einem langen „s“ und einem „z“ noch deutlich ablesbar ist. Hier handelt es sich nicht um einen DDR-Font, den man andererorts auch noch findet, sondern um eine neusachliche Groteskschrift aus den 1920ern (Erbar Grotesk), die sich ab den 1930er Jahren in Berlin verbreitete – und damit zu Lebzeiten von Thomas Mann -, nach der Wende dann (wieder) für zu ersetzende oder neue Straßenschildern in den Ostteilen verwendet.
Was für den Standort weiter charakteristisch ist: die Straßenleuchte, mit dem Mast aus Gussbeton, mit einem nach unten offenen, ornamental geriffelten Glaszylinder. Hier handelt es sich tatsächlich noch um ein DDR-Fabrikat.
Zeitlichkeit lässt sich neben der Schrift aus Materialität und Zustand der Schilder ablesen. Sie verwittern, Staub lagert sich ab; es bilden sich schwarze Spuren, Streifen, die Sonne bleicht die Schrift aus, sie ist z.B. auf einem Schild fast verschwunden, kaum noch lesbar; ähnlich wie Inschriften auf alten Grabsteinen.
Auf der Rückfahrt komme ich an einem Friedhof in Mitte vorbei, ich glaube, es ist der Alte Garnisonsfriedhof, wo ich vor Jahren jenseits der Friedhofsmauer eine Schichtung, einen Haufen von Straßenschildern gesehen hatte, die wohl für eine Baustelle demontiert waren, die Linienstraße, Gormannstraße etc. Daran erinnerte ich mich jetzt und suche Fotos wieder heraus, die ich damals gemacht habe, 2008 war das.
Und es keimt die Idee, dass eine Installation mit Straßenschildern ein Erinnerungszeichen für die Manns sein könnte. Doch zunächst will ich weitere nach den Manns benannte Straßen aufsuchen, in anderen Städten, als nächstes in München, wo auch das Denkmal stehen soll.
14.5.24: Auf der Baustelle für das Denkmal am Salvatorplatz werden die Fundamente der Straßenleuchten markiert, mit Farbspray und Kreide. Es entsteht eine Choreographie sich teils überschneidender Kreise und Flächen, mit Korrekturen und eingeschriebenen Zahlen. Die Markierung der vorhergehenden Versetzung einer Leuchte ist noch sichtbar. Auch wenn dies alles wieder verschwinden wird: ein Moment der Zeichnung im öffentlichen Raum.
Vor ein paar Tagen kam als Beitrag der südfranzösischen Gemeinde Sanary-sur-Mer zum Denkmal für die Familie Mann die Leuchte bzw. der Kandelaber, wie historische Leuchten gerne genannt werden. Im Herbst 2020 hatte ich den einstigen Emigrationsort der Familie Mann besucht.
Der Kandelaber kam gut verpackt von der Fonderie de Roquevaire, welche ihn restauriert hatte, und wurde am Bauhof in München entgegengenommen, vermessen – und beschriftet. Als kleiner Nebeneffekt vertauschten sich Buchstaben in meinem Namen und ich wurde so zum „Corse“(n).
Die Jahrestagung 2021 beschäftigt sich mit Orten des Exils und der Migration und ihrem Verhältnis zu Erinnerungskulturen und regt den Austausch zwischen der Exilforschung und anderen Forschungsrichtungen an, die sich mit (erzwungener) Migration und Flucht befassen.
Mehr Informationen, Programm und Ameldung hier.
Am 21. 3.2021 gab es auf Bayern 2 im Kulturjournal das Radiofeature „Schöner Schilderwald. Der Künstler Albert Coers und sein Münchner Denkmal für die Familie Mann“ von Astrid Mayerle. Hier zum Nachhören.
Nach langer Corona-Pause wieder Fahrten zu den Orten der Manns, in die Schweiz, zur Entgegennahme von Leuchten und Schildern. Zwar ließe sich das per Post senden, doch finde ich es interessant, zu den Orten und Leuten (freudscher Vertipper: Leuchten) zu fahren, selbst wenn das mehr Arbeit macht.
In São Paulo wohne ich im Hotel Lux, passend zum Leuchtenprojekt. Direkt davor befindet sich ein Platz mit der Fonte Monumental der Bildhauerin Nicolina Vaz, einem Marmorbrunnen aus den 1920er Jahren, an dessen Rand riesige Langusten als Skulpturen hochklettern, zum Teil mit Gesichtern von Menschen. Nachdem der Brunnen lange Zeit verwahrloste, Treffpunkt von Dealern war, Schlafplatz von Obdachlosen, hat die Stadt ihn in den letzten Jahren restauriert und durch Schutzwände aus Glas eingezäunt – was allerdings die Probleme auch nicht gelöst hat. Nachts ist er zur Beleuchtung, aber auch zur Überwachung und Abschreckung in grelles Scheinwerferlicht getaucht. Bizarr, die ganze Anlage, und auch etwas traurig: dass man öffentliche Kunst so unter einen Glassturz stellen muss, und die Bronzetiere durch solche aus Glasfaser ersetzen, weil sie sonst geklaut werden – und dass der wirtschaftliche Druck so groß ist, dies zu tun. Das hatte sich die Künstlerin wohl nicht so vorgestellt. Aber das alles gehört zum Thema „Kunst im öffentlichen Raum“.
Mein Aufenthalt in São Paulo und die Reise insgesamt geht dem Ende entgegen. Nun gilt es, zum Abschluss noch etwas Handgreiflich-Materielles nach Deutschland mitzubringen, ähnlich wie aus Nidden: eine Leuchte und/oder ein Schild. Das Beschaffen einer Originalleuchte aus der Rua Thomas Mann dürfte, anders als im kleinen, übersichtlichen Nida in Litauen, schwierig werden. Ich stelle mir die technischen Abteilungen dieser Metropole weitverzweigt vor (man hatte mich vor der Bürokratie in Brasilien gewarnt) und noch keinen Kontakt herstellen konnte. Aber vielleicht gelingt es trotzdem, eine Leuchte zu organisieren.
Ich schreibe an die Abteilung für Straßenbeleuchtung, „Ilume“ bei der Stadtverwaltung São Paulo – und gehe dort vorbei, in der Avenida Libero de Badaro. Bekomme am Empfang ein Besucherschild, ähnlich wie in Los Angeles, und darf wieder mit dem Aufzug hinauffahren. Vor dem Büro ein Fußabstreifer mit den einladenden Schriftzug „ILUME“. Mir gefällt der Kontrast zwischen dem Wort für ‚Licht’ und dem schwarz-braunen Objekt mit den Buchstaben auf dem Boden, an dem man sich die Füße abputzt.
Man hat meine vor wenigen Stunden geschriebene Mail bereits gelesen und erwartet mich, wie ich freudig überrascht feststelle. Die Namen der Mitarbeiter klingen für mich italienisch-vertraut. Wir diskutieren in einem Büro im Übersetzungswechsel von Englisch und Portugiesisch. Es scheint möglich, eine Leuchte, wie sie in der Rua Thomas Mann steht, zu bekommen, schnell und ganz unbürokratisch.
Anschließend im Laufschritt in die Prefeitura, ins Rathaus, zum Treffen mit Bruce Scheidl Campos, Ressort „Internationale Beziehungen“, mit dem ich durch Vermittlung aus Deutschland in Kontakt kam. Ein mächtiger Klotz mit Pfeilern aus Kalkstein, das Edifício Matarazzo oder Palácio do Anhangabaú, entworfen von Marcello Piacentini, einem Architekten des italienischen Neoklassizismus-Faschismus. Um dem Gebäude etwas von seiner Austerität zu nehmen, hat man ihm einen Dachgarten aufgesetzt und illuminiert es nachts mit einem roten Leuchtstreifen. Der Eingang ist von der Polizei mit Sicherheitsband abgesperrt. Innen eine riesige Halle, mit einer Karte Brasiliens und seiner Handelsgüter an der Wand. Eine geballte Ladung staatstragender Imponiergesten.
Das Treffen selbst dagegen ist nett. Bruce spricht auch Deutsch; seine Großeltern kamen aus Österreich; eine südamerikanische Einwanderungsgeschichte, siehe ja auch die Manns Generationen vorher. Ich kann vom den Verhandlungen mit ILUME berichten. Bleibt noch das Straßenschild „Rua Thomas Mann“. Bruce, obwohl eigentlich von einer ganz anderen Sektion und sonst eher für die Anbahnung von Handelsbeziehungen zuständig, verspricht, sich darum zu kümmern.
Noch habe ich das Schild allerdings nicht in der Hand und denke daran, es gleich an Ort und Stelle abzuschrauben. Andererseits – wäre das nicht ebenfalls eine Entwendung öffentlichen Eigentums, ähnlich dem Langustenklau an der Fonte Monumental, nur mit geringerem Material- und Kunstwert? Und werden sich die Anwohner nicht fragen, wo ihre Rua Thomas Mann geblieben ist? Nein, der Ehrgeiz sollte sein, es auf offiziellem Wege zu beschaffen, auch wenn es noch einige Monate dauert.
Dagegen kann ich bereits ein paar Tage später, nach der Rückkehr aus Curitiba, bei ILUME eine Schachtel mit Lampe, Ersatzbirne nebst technischer Dokumentation in Empfang nehmen. Und eine Bescheinigung, dass es sich um einen Gegenstand „sem valor comercial“ handle, falls man mich beim Zoll danach fragt. Für mich ist diese Leuchte aber höchst wertvoll. Erstaunlich, was so ein industrielles Massenprodukt, ein Alltagsgegenstand, noch dazu schon länger in Gebrauch, auf einmal für einen ideellen Wert bekommt. Schleppe die Lampe auf der Schulter durch die Stadt zum Hotel Lux. Es ist nicht weit und tut gut, endlich ein Ergebnis in Händen zu halten.
Dann steht und liegt die Leuchte im Hotelzimmer. Sie ist wie ein Mitbewohner und nimmt Züge eines Robotorwesens an, mit dem Körper aus Metall, der kopfartigen ovalen Form, der Glasscheibe vorne, die ein Gesicht suggeriert, und den filigran-beweglichen Kabelfortsätzen.
Die Leuchte will auch noch weiter transportiert sein. Dazu kaufe ich in einem Haushaltswarenladen in der Nähe einen leichten Klappkarren aus Alu, in einem anderen einen Gummiexpander (zwei wären besser gewesen). Auf der Suche nach Verpackungsmaterial zum Auspolstern der Schachtel finde ich abends auf der Straße Styropor und Kartonagen, Eierkartons. Dabei gerate ich aneinander mit professionellen Sammlern, Altpapierhändlern von der Straße, die sich in ihrem Geschäftsmodell verletzt fühlen. Sie mache sich die Hände schmutzig, sichere so ihren Lebensunterhalt, setzt mir eine Frau eindrücklich auseinander. Ich kaufe ihr das Material schließlich ab, akzeptiere, dass auch das Weggeworfene und seine Aufbereitung einen Wert hat.
Am nächsten Morgen geht es zum Flughafen. Das Wägelchen mit der Schachtel rollt sich gut. Die Befestigung mit Gummispanner, Plastikstreifen und Leukoplast-Tape wirkt allerdings ziemlich improvisiert. Aber der Verbund wird nicht beanstandet, ist lediglich als Sperrgepäck zu deklarieren. Die Leuchte gleitet auf ein Fließband, verschwindet dann im Dunkel hinter einem Vorhang. Sie wird ihren Weg nach Deutschland finden, so hoffe ich. Das tut sie auch, genauso wie ich selbst, nach einer Zwischenlandung in Bogotá – die eigentlich nur 12 Stunden dauern sollte, sich aber zu einem Aufenthalt von mehreren Tagen auswächst. Aber das ist eine andere Geschichte …
Nachts im Bus nach Curitiba, einer Großstadt etwa sechs Stunden von São Paulo Richtung Westen, wo es eine weitere Rua Thomas Mann gibt, die ich noch besuchen will. Klasse „Leita“ („Bett“) – die Sitze lassen sich fast bis zur Waagrechten klappen, es ruckelt trotzdem ganz schön. Freue mich darauf, dem Freitag-Feiertagsbetriebs des Allerheiligentages in São Paulo zu entfliehen, in aller Frühe (4.30) in einer Stadt anzukommen, deren Name mir bis dahin unbekannt war.
Die Luft ist mild, kühler als in São Paulo, es zwitschern Vögel, große Bäume am Busbahnhof, ihr mattes Grün in der Dämmerung angenehm. Es wird Tag. Pastellfarbene Hochhäuser tauchen auf, Schnellstraßen. Curitiba scheint wie eine sauberere, grünere und kleinere Version von São Paulo (bei 1,7 gegenüber 12 Millionen Einwohnern), in der sich die Stadtutopien der 1950er und 60er Jahre entfalten konnten und nicht überwuchert wurden. Hellviolette Blüten an den Bäumen und auf dem Pflaster.
Warten auf einen Bus, neben einer Hinweistafel zur
Stadtgeschichte, mit Klebebuchstaben, die sich gelöst haben. Abgeblättert
ergeben sich neue Kombinationen und Wörter.
Das Oskar-Niemeyer-Museum – mir bislang unbekannt und riesig, wie die Bauwerke und Monumente des Brasilia-Architekten allgemein: ein auf einem Pfeiler-Sockel schwebender Körper, durch zwei flach gespannte und spitz aufeinandertreffende Bögen gebildet, an den Seiten verglast, durchaus beeindruckend. Keine Furcht vor großen Zeichen und Formen, eine Architektur-Skulptur. Vielleicht zu viel „Zeichen“. Auge-Sehen-Kunst-Museum – die Assoziationskette läuft mir zu glatt ab.
Mit einem Leihrad, das gerade jemand vor dem Museum abstellt, Richtung Rua Thomas Mann. Trickreich: man darf sich nur innerhalb eines bestimmten Gebietes bewegen und nur dort das Rad abstellen. Radle los, einem Radweg nach Norden entlang. Unterwegs komme ich an einer Ansammlung niedriger weißgestrichener Holzhäuser vorbei, die an ein Schtetl erinnert, ein Freilichtmuseum und zugleich Gedenkort an die polnischen Immigranten im 18. und 19. Jahrhundert nach Brasilien (Bosque João Paulo II.). Diese Präsenz europäischer Migration, gerade aus Mittel- und Osteuropa, lässt wiederum an die Familie Mann denken, in der Thomas‘ Großvater mütterlicherseits, Johannes Ludwig Bruhns, von Lübeck nach Brasilien übersiedelte – ich hatte über diese Geschichten der Einwanderung ja auch einiges in São Paulo erfahren, unter anderem im Gespräch mit Matthias Makowski und Jörg Hayer vom Goethe-Institut.
Hier in Curitiba führt der Weg zu einem Park und See. Weiter reicht die Zone nicht – abstellen und zu Fuß weiter. Am Rande des Parks will ich abkürzen und stoße auf einen Drahtzaun – ein Loch lässt mich durchschlüpfen. Dahinter Urwald – oder was ich mir darunter vorstelle. Der Boden dicht bewachsen mit Farnen und Gebüsch. Wie auf einem Bild von Thomas Struth. Angrenzend Grundstücke, Mauern, Zäune. Um herauszukommen, muss ich über einen klettern.
Durch eine Gegend mit kleinen und größeren Villen. Danach wird es sehr ländlich, niedrige einstöckige Häuser, neben der Straße ein Bach mit Hütten und Gärten. Hier haben sich als erste polnische Einwanderer niedergelassen, wie ich später erfahre, und in der Tat könnte man sich an osteuropäische Landstriche erinnert fühlen.
Endlich die Rua Thomas Mann, im Viertel Barreirinha, wie auf den Schildern quasi als Untertitel steht. Unspektakulär, eine ganz normale Straße – und gerade darin interessant. Die Straße scheint „ein ganz klein wenig netter als die in São Paulo“. So schrieb mir nach einem virtuellen Rundgang schon Fredric Kroll, Experte für die Familie Mann, besonders für Klaus, und deren Rezeption. Und in der Tat, jetzt vor Ort wird das auch im Detail sichtbar: Der Mast ist weniger bröckelig, das Schild unzerknautscht, in besserem Zustand als sein dortiges Pendant. Intelligent die Anbringung, die ohne Verschraubung auskommt.
Gerade als ich Fotos mache, nähert sich ein Auto mit offener Heckklappe, den Kofferraum voller Kartons, und hält an der Einmündung zur Hauptstraße, unter dem Straßenschild. Per Lautsprecher werden Haushaltswaren wie Töpfe, Pfannen angeboten. Einbruch der Gegenwart und schöner Kontrast zu „Thomas Mann“.
Der Mast am anderen Ende der Straße ist sogar mit zwei Leuchten bestückt, die in unterschiedliche Richtungen weisen – und ganze Bündel von Leitungen laufen auf ihn zu, führen von ihm weg. Thomas Mann als Knotenpunkt im Beziehungsgeflecht, könnte man frei assoziieren. Auch sein Name ist eingebettet in ein Assoziationsfeld: Die Nachbarstraße ist benannt nach einem Namensvetter und europäischen Schriftstellerkollegen, der freilich einer ganz anderen Epoche angehört, Thomas Morus, Autor von „Utopia“. Vielleicht lief die Auswahl der Straßennamen tatsächlich über den gleichen Vornamen und den Anklang des Nachnamens. Auch fungieren weiter überwiegend philosophische Schriftsteller wie Montesquieu und Voltaire als Namensgeber, und es könnte sein, dass Thomas Mann hier in seiner Eigenschaft eben weniger als Romancier denn als politisch-philosophischer Schriftsteller und Essayist gewählt wurde.
Interessant in puncto „Stadtmobiliar“ finde ich auch die Müllständer vor den Häusern. Auf Metallpfosten, um Abstand zum Boden zu schaffen und Ratten und Ungeziefer fernzuhalten, thronen skulpturale korbartige Behälter, in die man seine Mülltüten stellen kann. Boden und Seitenflächen sind ornamental durchbrochen, was der Belüftung zugute kommt. Die Anwohner haben die Ständer variiert und angepasst, sie sehen immer etwas anders aus.
In der Nähe zeichnet sich hinter einer Schule und Bäumen ein seltsames Bauwerk in leuchtenden Farben ab, ein Leuchtturm, wie man ihn hier im Binnenland nicht erwarten würde. Es ist der „Farol do Saber Antonio Machado“, eine kommunale Bibliothek, eingerichtet 1996. Von diesen Turm-Bibliotheken hat die Gemeinde Curitiba über 40 im Stadtgebiet verteilt. Die Bibliothek ist gleichzeitig auch Denkmal für den spanischen Schriftsteller Antonio Machado, 1875 geboren, im selben Jahr wie Thomas Mann! Inspiriert ist der Bau inspiriert vom legendären Leuchtturm und der Bibliothek des antiken Alexandria, zwei ganz unterschiedlichen Einrichtungen, die jetzt hier symbolisch verknüpft werden – was aber besonders interessiert, da Stadt und Name für mich Ausgangspunkt mehrerer Rechercheunternehmen und Installationen waren, siehe das Projekt ENCYCLOPEDIALEXANDRINA. Diese Bezugnahme lässt die hohe Bedeutung erahnen, die man an einer Stadtteilbibliothek beimisst, ein Leuchtturmprojekt gewissermaßen für das Stadtviertel. Ein schöner Zufall, dass die Leuchten-Metapher sich in unmittelbarer Nachbarschaft befindet zu den Straßennamen-Leuchten mit dem Namen Thomas Mann.
Zurück zum Park, zum Rad, das da noch steht, dann wieder in die Innenstadt – mit einem Zwischenstopp an einem monumental-pompösen Granit-Denkmal für die Unabhängigkeit der Provinz Paraná aus den 1950er Jahren (Platz des 19. Dezember) – zum Busbahnhof. Rückfahrt nach São Paulo. Sehne mich nach Ruhe.
Im Bus Notizen über Curitiba und das Gesehene – doch dann stürzt word ab, die Datei ist verschwunden. Nur noch vage Erinnerungen an einen Text und einen Aufenthalt, den ich viel später versuche zu rekonstruieren.
Von Los Angeles nach São Paulo, auf der Suche nach den Manns, nach Straßennamen und ‑leuchten. Zunächst hatte ich gedacht, einmal auf dem amerikanischen Kontinent, fahren wir auch nach Südamerika – und die Strecken unterschätzt. Was auf der Karte nur eine Handspanne entfernt scheint, sind in Wirklichkeit ca. 10 000 km Luftlinie. Auf dem Landweg innerhalb des gesetzten Zeitrahmens kaum möglich – also doch wieder ein Langstreckenflug.
Die
Entfernung ist auch groß bezogen auf die Manns, ihre Biographien und ihre
Rezeption: In Nordamerika lebten und arbeiteten sie lange Jahre, wurden teils
auch US-Staatsbürger; Michael blieb dort, Elisabeth ging nach Kanada. Trotz
dieser Präsenz haben sie keine Spuren in Form von Straßennamen hinterlassen.
Auf dem südamerikanischen Kontinent dagegen war von den Manns kaum jemand, und Thomas schon gar nicht. Trotzdem gibt es mehrere Straßen, die nach ihm benannt sind, unter anderem in São Paulo und Curitiba. Womit hängt das zusammen? Wohl mit dem hohen Stellenwert von Literatur in Südamerika allgemein und der Migrationsgeschichte von Deutschen zwischen diesem Kontinent und Europa im Besonderen, wie sie gerade in der Familie Mann deutlich wird: Manns Mutter Julia Silva-Bruhns stammte aus Brasilien, als Tochter von Maria de Silva, aus portugiesischer Familie, und des Lübecker Kaufmanns Johann Ludwig Bruhns, der nach Brasilien ausgewandert war und dort, in São Paulo, eine Firma gegründet hatte. Nach dem Tod seiner Frau ging er mit seinen Kindern nach Lübeck zurück.
In der Biblioteca Mario de Andrade, der zentralen Stadtbibliothek in São Paulo, entdecke ich in der Sektion zur Geographie Brasiliens, neben Würdigungen brasilianischer Fußballspieler, auch eine Biographie der Brüder Mann. Die gehören also auch zur hiesigen (Kultur)Landschaft. Nigel Hamilton betont das brasilianische Erbteil der Mutter und ihren Einfluss auf die literarische Karriere der Söhne, auch ihre politische Haltung: Gerade Heinrich habe viel von der Mutter geerbt, den kämpferischen, leidenschaftlichen, radikalen Geist, während Thomas eher dem Vater nachgeschlagen sei … Nichtsdestotrotz sind Straßen nach Thomas, nicht nach Heinrich benannt.
Die Rua Thomas Mann in São Paulo ist eine Seitenstraße im nördlichen Quartier Casa Verde, wieder einmal etwa anderthalb Stunden Busfahrt vom Zentrum aus, geprägt durch eine Mischung von kleinen Läden, Restaurants und Autowerkstätten. Von Ästhetik ist hier im praktisch-angewandten Sinn die Rede: „Estetica automobilista“ heißt eine Werkstatt, wo geschliffen und lackiert wird.
Thomas Mann befindet sich in Gesellschaft von brasilianischen und internationalen Schriftstellerkollegen, wie dem portugiesischen Lyriker Armando da Silva Carvalho, nach dem die Hauptstraße benannt ist, aber auch von Intellektuellen, die mit Sprache insgesamt zu tun hatten: eine Querstraße zuvor trägt den Namen des Esperanto-Begründers Zamenhof.
Es gibt zwei Arten von Straßenschildern: die offensichtlich älteren an Hauswänden, mit einem weiteren Schild mit Zusatzinformation zur Person, hier „escritor“ und den Lebensdaten. Durch gelben Putz sind die Schilder hier eingerahmt und teilweise überdeckt, sehen aus wie festgemörtelt. Da sie so mit der Architektur verbunden sind, wäre es schwierig, sie in München zu integrieren. Und in dem Fall, bei dem ich schon vorhabe, ein Schild an eine Wand anzubringen, der Rue Thomas Mann aus Paris, muss ich mich noch mit dem Denkmalschutz auseinandersetzen. Zum Glück gibt es aber auch die Variante der Schilder an den Leuchten.
Das Straßenschild weiter unten ist arg zusammengeknickt und ‑gestaucht. Es sieht aus, also ob ein Olaf Metzel hier zu Werke gegangen sei, gewinnt aber gerade in seinen Faltungen eine plastisch-dekonstruktivistische Qualität, die mir sehr gut gefällt. Am liebsten würde ich es gleich mitnehmen.
Wahrscheinlich sind es hohe LKWs gewesen, die das Schild touchiert haben. Wie hoch ist es eigentlich gehängt? Das interessiert mich, auch im Hinblick auf die Münchener Installation.
In der Hauptstraße gehe ich auf die Suche nach einem Werkzeug zum Messen. Im Laden einer alten Dame, die Katzenfutter und Waschmittel anbietet, werde ich leider nicht fündig. In einem Geschäft für Haushalts- und Handwerksbedarf (in Italien wäre es eine mesticceria) sehe ich Meterstäbe, kürzer als die europäische Variante, dafür dicker. Ich entscheide mich dann aber für ein gelbes Metallmaßband. Und messe am Mast herum, messe, wie hoch das Schild mit dem Namen Thomas Mann gehängt ist. Gar nicht so einfach, denn das Band mit seinen drei Metern reicht nicht bis hinauf. Es sind 3,40 Meter, damit höher als in München.
Früh gehen die Straßenleuchten an, etwa um halb sechs, noch vor der Dämmerung. Allerdings nur in manchen Straßenzügen, den Hauptstraßen. Die Seitenstraßen und damit auch die Rua Thomas Mann bleiben noch unbeleuchtet. Es scheint sich um ein Energiesparkonzept zu handeln, das bestimmte Straßenzüge priorisiert – so wie Fluggäste in der 1. Klasse das Essen zuerst bekommen. Ich drehe mehrere Runden, man kennt mich inzwischen im Viertel schon, und endlich gehen auch die Leuchten in den Seitenstraßen an, geben ein rötlich-gelbes Licht – bis auf die eine in der Rua Thomas Mann! Als ob sie sich bewusst verweigern würde. Das könnte überhaupt ein weiteres Konzept sein, um Verbindung und Transfer zu verdeutlichen: Jeweils die eine Lampe leuchtet nicht – aber dafür ihr Pendant in München! Das Licht wäre gleichsam umgeschaltet, umgezogen.
Ich räume das Feld und hoffe, in den nächsten Tagen von der Stadtverwaltung eine Leuchte bekommen zu können. Auf der Rückfahrt durch die dunkelnde Stadt schlafe ich im Bus ein, trotz des Stop-and-Go im Feierabendverkehr.
Halifax – ich hatte zunächst gezögert, dorthin zu reisen, an die Westküste Kanadas, nach Neuschottland, von New York auf dem Landweg etwa 1400 km entfernt. Dann aber, einmal auf dem nordamerikanischen Kontinent, scheint es eine Gelegenheit, das Umfeld zu erkunden, in dem Elisabeth Mann Borgese, Thomas Manns jüngste Tochter (1918–2002, von Insidern EMB abgekürzt), über 25 Jahre gelebt hat.
Karolina Kühn vom Literaturhaus München, die 2013 eine Ausstellung zu EMB kuratierte, nennt Kontaktpersonen in Halifax und bestärkt mich in der Reiseabsicht – bereits die Landschaft dort sei es wert!
Welches Verkehrsmittel ist angemessen? EMB, leidenschaftliche Autofahrerin, fuhr die Tour in den Norden das erste Mal in einem Rutsch von 16 Stunden. Später nutzte sie aber auch den kleinen Flughafen von Halifax ausgiebig. Ich beschließe, hin zu fliegen, zurück nach New York auf dem Landweg zu reisen. Von oben sieht Nova Scotia sehr vielverprechend aus.
Ich erkunde zunächst die Gegend um Halifax, übernachte auf einer Halbinsel mit dem schönen Namen „Dead Mans Island“, ziehe an Buchten entlang, durch Wald, Gebüsch an Seen vorbei, über blankgescheuerte Granitflächen. Nach Westen sind noch die Hochhäuser der Stadt zu sehen. Auf der anderen Seite in der Ferne das Meer.
Die Straße, auf der ich nach einem Abstecher in die fast menschenleere Umgebung zwischen Stadt und Küste als erstes stoße – Princeton Road. Was für ein Zufall!
Von Princeton nach Halifax: So läßt sich ein Teil des Weges von EMB beschreiben: In Princeton kommt sie mit den Ideen einer Weltregierung in Berührung, mit politisch engagierten Emigranten wie ihrem zukünftigen Mann Giuseppe Antonio Borgese, die unter dem Eindruck von NS-Regime und Faschismus z.B. die Konferenz „City of Man“ 1940 veranstalten, an der auch Thomas Mann mitwirkt, eine Weltverfassung entwerfen. Das Meer, zu dem Elisabeth schon seit der Kindheit eine enge Beziehung hatte – siehe die Aufenthalte an der Ostsee auf Nidden – ist ihr das Gebiet, um diese idealistischen Vorstellungen umzusetzen. Sie setzt sich ein für Nachhaltigkeit und internationale Zusammenarbeit, etwa im Club of Rome – als einzig weibliches Mitlied, ihrer Zeit in mehrfacher Hinsicht voraus. 1972 gründet sie das International Ocean Institut (IOI). Fachkenntnisse eignet sich die studierte Musikerin nach Interesse und Bedarf an – darin ihrem Vater nicht unähnlich. Im Verlauf ihrer unkonventionellen, heute so kaum mehr möglichen Karriere kommt sie 1978 an die Delhousie-Universität in Halifax, immerhin mit 60 Jahren, als Professorin für internationales Seerecht.
Zurück in der Stadt besuche ich das IOI, in einem vergleichsweise bescheidenen Holzhaus in der Nähe der Universität. Die Atmosphäre ist familiär. Madeleine Coffen-Smout, Programmleiterin, Mike Butler, Direktor, und Hugh Williamson, ehemaliger Assistent EMBs, machen mich mit der Aktivität des IOI bekannt: es hat wenig direkten politischen Einfluss, stellt aber ein umfangreiches Netzwerk dar. Schwerpunkt ist das internationale Ausbildungsprogramm in politischen Wissenschaften, internationalem Recht, Wirtschaft und Management, Meereskunde. Die Kurse haben Modellcharakter, viele der Teilnehmer sind später an Schaltstellen tätig und vergrößern so das Netzwerk, das auf einen verantwortungsvollen Umgang mit den Resourcen der Meere, auf ein globales ökologisches und ökonomische Bewusstsein abzielt.
Madeleine hat Schautafeln, Bilder und Publikationen zusammengestellt, die mit EMB in Zusammenhang stehen. Dabei fällt auf, dass sie auf den meisten, besonders den frühen Fotos sehr männlich aussieht, laut eigener Aussage aussehen wollte, mit kurzen Haaren und ernstem, extra fürs Foto aufgesetztem Blick. Und in der Tat, mit der weiblichen Geschlechterrolle hatte EMB lange zu kämpfen, wollte als Mann erscheinen, sich auch leistungsmäßig beweisen, etwa durch pianistisches Können, nicht zuletzt ihrem Vater Thomas Mann gegenüber. Das interessiert mich besonders, da der Familienname ja auch als Geschlechtsbezeichnung gelesen werden kann und die Auseinandersetzung damit und mit entsprechenden bürgerlichen Erwartungen in der Familie eine Art Leitmotiv darstellt, auch bei Erika und Katja. Hier werden Gendergrenzen überschritten einerseits phänotypisch, im Sinn von androgynem Aussehen, andererseits auch im Sinn von Emanzipation. Auch schwingt der Leistungsgedanke mit – leitet der Name ‚Mann’ sich doch vom Übernamen für einen tüchtigen Menschen ab.
Bilder: Cover Holger Pils/Karolina Kühn (Hrsg.): Elisabeth Mann Borgese und das Drama der Meere, Berlin 2012.
Hugh Williamson erzählt von EMB Tätigkeit und Persönlichkeit: Sie verfolgte ihre Ziele ausdauernd und selbstbewusst, rief auch, wenn es etwa um die Ratifizierung von internationalen Abkommen ging, beim amerikanischen Präsidenten an. Inwiefern spielte ihr prominenter Familienname eine Rolle? EMB scheute sich nicht, ihn einzusetzen („Mann? That is an interesting name“), wenn es darum ging, Zugang zu bekommen und Mitstreiter für die Sache der Meere zu gewinnen.
Eine Straße ist nach EMB in Halifax und auch sonst weltweit nirgends benannt – außer in München, der Stadt, in der sie geboren und aufgewachsen ist. Es gibt aber doch einen weiteren Namensträger, ein Fortbewegungs- und Transportmittel, das in dem Element unterwegs ist, für das sich EMB enagierte: ein Schiff.
Ähnlichkeit mit dem Ausblick von einem Schiff hatte der Blick aus ihrem häuslichen Arbeitszimmer vom Schreibtisch nach draußen aufs Meer, wobei das Geländer vor dem Fenster wie eine Reling wirkt. Den Gegenstand ihrer Bemühungen vor Augen und Ohren zu haben, war ihr wichtig, neben Ungestörtheit und Konzentration.
Foto: Peter Sibbald, aus: Holger Pils/Karolina Kühn (Hrsg.): Elisabeth Mann Borgese und das Drama der Meere, Berlin 2012, S. 184.
Am Nachmittag fährt mich ein weiterer freundlicher Mitarbeiter des IOI, Dirk Werle, zu EMBs ehemaligem Haus in Sambro Head, entlang der Küste. Man fährt etwa eine halbe Stunde, durch die dünnbesiedelte Gegend, die ich zuvor erkundet hatte. Freunde und Geschwister (etwa Golo) waren damals nicht unbedingt begeistert, dass sie sich so weitab vom Schuss niedergelassen hatte, dort, wo wie jetzt, im Herbst bereits der Wind vom Atlantik her pfeift und im Winter schon mal die Leitungen einfrieren. Aber EMB wollte es so.
Foto: Dirk Werle
Das Haus wirkt bescheiden, aber schützend und gemütlich, mit zum Boden gezogenen Dächern, einer „A“-Konstruktion, jetzt etwas verwildert und eingewachsen; EMB starb ja bereits 2002. Die Hausnummer ist auf eine Holzlatte geschrieben, mit aufgeschraubter Leuchte – von der allerdings nur noch eine Fassung vorhanden ist. Auch die Straßenleuchte gleich gegenüber ist denkbar einfach: ein Holzmast aus einem Baumstamm, der gleichzeitig als Träger von Strom- und Telefondrähten dient, daran ein Ausleger.
Der Kontrast zu den Villen ihres Vaters ist eklatant, gerade nachdem ich kurz vorher das Haus in Princeton gesehen hatte. Aber wen hätte Elisabeth beeindrucken, was hätte sie repräsentieren sollen?
Zwei Zitate zu/von EMB sind mir noch im Gedächtnis: „She was an iceberg“ (Hugh Williamson), anerkennend gemeint: unbeirrbar, zielstrebig unterwegs, mit nur einem Bruchteil des Volumens sichtbar. Und: „It’s easier to get forgiveness than permission“, das im Bezug auf ihre vielen Projekte und Versuche, auf Leute einzuwirken und das zu bekommen, was sie wollte. Ich muss an das Denkmalprojekt denken, wo es ja auch viel um Genehmigungen gehen wird – da könnte ich mir eine Scheibe abschneiden …