Es ist schon einige Zeit her, dass ich in Lübeck war, dort, wo die Vorfahren der Familie von Thomas Mann lange ansässig waren, wo er selbst, wo Heinrich und seine vier Geschwister geboren und aufgewachsen sind, und wo eine Straße nach ihm benannt ist. Im Sommer 2019 war das. Jetzt, 2024, wo die Realisierung des Denkmals in greifbare Nähe rückt, inklusive des Straßenschildes aus Lübeck, versuche ich, anhand meiner Notizen und Erinnerungen den Aufenthalt zu rekonstruieren.
Vielleicht passt das nicht schlecht zu dem Ort, an dem vieles sich auf Vergangenes bezieht, wo vieles zerstört und dann wieder aufgebaut wurde, wo immer noch Lücken auffallen. Und eigentlich gehört Lübeck ja chronologisch-biographisch an den Anfang – wenn ich auch andere Orte vorher besucht habe.
Es geht hier nicht um eine umfassende Darstellung des Verhältnisses von Thomas Mann zu Lübeck – dazu gibt es einige Literatur, z.B. „Die Familie Mann“ von Hans Wißkirchen, und darüber hat er sich ja selbst wiederholt geäußert, etwa in seiner Rede „Lübeck als geistige Lebensform“ (1926). Vielmehr um das Nachleben Thomas Manns – und was die nach ihm benannte Straße und ihre Schilder davon erzählt. Überhaupt: In „Schildern“ steckt ja bereits das Erzählen.
In Lübeck treffe ich mich mit Britta Dittmann von Bibliothek und Archiv des Buddenbrookhauses, das natürlich die zentrale Anlaufstelle ist. Neben den Informationen, die sie zu Thomas und zur Familie Mann zu geben weiß: Es erzeugt Vertrautheit, mit jemandem durch die Stadt zu gehen, der hier wohnt und aufgewachsen ist; Thomas Mann rückt näher. Ganz selbstverständlich wird er von ihr „Tommy“ genannt.
Es ist heiß, als wir zur Thomas-Mann-Straße gehen, die Hitze lässt mich den Weg – und auch die kühlenden Wasser, die wir immer wieder überqueren, noch intensiver erfahren.
Die Erfahrung, die sich in anderen Städten wiederholen wird: der Weg zu Thomas Mann ist weit.
Wenn man Lübeck durch das Holsten-Tor betreten hat, die Ost-West-Achse entlang der Holsten- und der Wahmstraße durch die Altstadt immer weiter verfolgt, die Trave, welche die Altstadt umfließt, auf der Rehderbrücke überquert, die Moltkestraße mit ihren prächtigen historistischen Fassaden entlanggeht und wiederum ein Gewässer überquert, diesmal die breite Waknitz, in der Thomas Mann schwimmen lernte, bis zum Moltkeplatz, dort sich rechts hält und in die kleine Von-Morgen-Straße einbiegt, bis man auf die große, vielbefahrene Wallbrechterstraße stößt, Teil der B 75, ihr rechts folgt, dann kommt man, von ihr abzweigend, zur Thomas-Mann-Straße.
Dass es keine nach Thomas Mann benannte Straße in der Innenstadt gibt, liegt naheliegend daran, dass dort alle Gassen und Straßen seit alters her benannt waren, und so schlicht „kein Platz“ war. Umbenennungen kamen kaum vor, in der von Beharrungskräften geprägten Stadt.
Und so legen sich die Straßen wie Jahresringe um die Stadt.
Im städtischen Raum steht der Name einer Straße niemals allein. Er konkurriert immer mit anderen Elementen – auch wenn es ein berühmter Name ist. Positiver gesprochen: er ist eingebettet in viele Zusammenhänge, verkehrstechnische, städtebauliche, soziale, postalisch-administrative; ist ja eigentlich ein rein funktionales Zeichen, das auf eine Adresse verweist, auf eine nach einer Person benannten Straße. Aber gerade dieser Zusammenhang von Zeichen und Bezeichnetem macht die Sache interessant.
Das Schild mit dem Namen ist nur eine unter vielen Zeichen, die sich am Anfang der Straße ballen: da ist ein Vorfahrtsschild, da ist die Ampelanlage mit jeweils in zwei Richtungen weisenden drei Leuchten, auf denen immer zwei rote und ein grünes Männchen zu sehen sind, das Fußgänger/Radwegszeichen, da sind Pfeile, die auf Sportplatz und Gemeindezentrum hindeuten.
In München wird es aus diesem Kontext gelöst sein, freigestellt, in einen anderen eingefügt.
Schulen, Leuchten
Am Anfang der Straße liegt die Thomas-Mann-Schule, heute ein Gymnasium. Ende der 1950er Jahre wurde die innerstädtische Oberschule am Falkenplatz ins Grüne verlegt und ihr Name geändert. Ursprünglich sollte sie „Buddenbrookschule“ heißen– doch der Lübecker Stadtrat protestierte: Eine Schule sollte den Titel eines Romans tragen, der, wie schon der Untertitel angibt, vom Verfall einer Familie erzählt? So blieb der Name des Autors statt seines damals immer noch als anstößig empfundenen Werks.
Dass überhaupt eine Schule nach Thomas Mann benannt ist, entbehrt nicht einer gewissen Ironie, musste der spätere Nobelpreisträger doch selbst drei Klassen wiederholen. Seine Interessen waren eben sehr selektiv.
Die pilzförmigen Leuchten vor dem Schulgebäude stammen noch aus der Bauzeit der Schule, aus den 1950er Jahren. Sie vermitteln so zur Gegenwart, zum 2012 modernisierten Gebäude, an dem Backsteinbänder mit graugrünen und grüngelben Platten verkleidet wurden. Die Farbe erinnert mich an die namensverwandte Schule in München, das Thomas-Mann-Gymnasium, das 2023/24 nagelneue Räume bezog, in denen ebenfalls Grüntöne vorherrschen. Den Namen „Thomas Mann“ mit der Architektur der Gegenwart zu verbinden – eine Herausforderung. Die Farbe Grün, so stelle ich mir vor, soll die Schule zusammenbringen mit der Lage im Grünen am Stadtrand, am Übergang zu Gärten, Bäumen, den Rasen von Sport- und Campingplätzen.
Und auch die fließenden, organischen Formen der Leuchten in der Straße – eine rezentere Version – sind an Naturformen angelehnt, an Pilze oder Mollusken.
Schilder – Schwarz auf Weiß
Tatsächlich im Grünen, eingewachsen zwischen den Bäumen, stößt man auf ein weiteres Straßenschild. Hier ist Thomas Manns Name mit dem von Otto Passarge kombiniert, Bürgermeister in Lübeck, der seinerzeit auch die Initiative für die Benennung der Straße ergriff. So verweisen die Schilder aufeinander.
Die Unterschiede zur typographischen Gestaltung in anderen Städten laden zu Interpretationen ein; es besteht ein starker Gegensatz zu den üppigen Buchstaben in München, Weiß auf Blau, die noch dazu in eine Kartusche gesetzt sind. Drückt sich hier in Lübeck norddeutsch-nüchterner Protestantismus aus, Einfachheit, Zweckmäßigkeit, Vertrauen auf die Schrift allein? Dafür spricht, dass die Schilder in Leverkusen (Golo-Mann-Straße) ähnlich gestaltet sind, und auch in Berlin (Thomas-Mann-Straße) und im (protestantischen) Kilchberg. In südlicher-katholischen Gegenden, in Frankfurt, München, Zürich ist die Schrift in Weiß auf Blau gehalten. Ebenso in Paris und Sao Paulo. Auch wenn da sicher auch andere Aspekte hineinspielen: In München vermitteln die Schilder, die auch außerhalb der historischen Altstadt in breiter Antiquaschrift gesetzt sind, auf glänzendem Email, auf jeden Fall etwas Repräsentatives, Traditionell-Gediegenes; sie wollen an den Schönheitssinn appellieren und einen gewissen Glanz verbreiten.
Doch trotz dieses Kontrastes in den Straßenschildern, Konfessionen und der Entfernung verbindet beide Städte mehr, als man zunächst denkt, etwa die mittelalterliche Neugründung durch Heinrich den Löwen, und die Vorliebe für das Bauen von unverputzten rotgebrannten Ziegeln.
Am Münchner Salvatorplatz wird das Schild aus Lübeck sich sicherlich wohlfühlen, im Umfeld der alten Stadtmauer, der gotischen, aus Backstein errichteten Salvatorkirche – die an so manche Lübecker Kirche erinnert, vor dem Hintergrund der Fassade der Salvatorgarage.
Dank der Hilfe der Kulturstiftung der Hansestadt Lübeck wird das Schild dann, 2021, versandt, wie eine schöne Pressemeldung auch bestätigt, mit dem Titel „Münchener Kunstwerk bündelt Straßenschilder und ‑leuchten der Familie Mann“ – und ist Bestandteil der Sammlung.
Eine Verbindung ergibt sich auch dadurch, dass beide Städte im 2. Weltkrieg stark zerstört wurden. In der Marienkirche, der Taufkirche von Thomas (und Heinrich) Mann erinnert eine große, beim Bombardement vom Turm gefallene Glocke an die Kriegsschäden. Auch eine Art Denkmal, ein Mahnmal.
„What a Family“
Die zentrale Gedächtnisstätte in Lübeck ist natürlich das Buddenbrookhaus in der Mengstraße. Die Ausstellung zu Leben und Werk ist anregend, ebenso der Buchladen mit einer Fülle von Mann-Literatur. Ein schönes Buch fällt mir auf, „Seven Palms“ über die Villa der Manns in Pacific Palisades, mit Texten von Francis Nenik. Im Katalog zur Ausstellung „What a Family! Die Manns von 1945 bis heute“ ein Grußwort von Stefan Mann, Sohn von Frido, somit Urenkel Thomas Manns – in dem er bedauert, bei der Vernissage kein Grußwort sprechen zu können, da er schon einen Flohmarktstand zum Verkauf von Ballast zu betreuen hat. Witzig und angenehm unprätentiös.
Vor dem Haus steht ebenfalls eine Straßenleuchte, hier in der Altstadt dem historischen Umfeld angepasst, in Glockenform. Den Kontrast zum Geschichtlich-Altehrwürdigen finde ich aber eher in der Leuchte von der Thomas-Mann-Straße wieder, weshalb sie Bestandteil des Denkmals sein wird.
Am darauffolgenden Tag reise ich weiter nach Erfurt. Dort fällt mir natürlich sofort eine Thomas-Mann-Schule auf. Doch eine Straße ist dort nicht nach ihm benannt, dafür eine nach Heinrich. Überhaupt war in der DDR Heinrich als „Namenspatron“ beliebter als Thomas, der trotz seines Einsatzes für die Sozialdemokratie und gegen den Nationalsozialismus doch eher als großbürgerlicher, politisch längere Zeit konservativer Schriftsteller wahrgenommen wurde, dagegen Heinrich als der politisch von Anfang an konsequent linksorientierte, engagiertere.
In Lübeck – und auch in vielen anderen Städten, darunter in München, gibt es sowohl eine Thomas- als auch eine Heinrich-Mann-Straße. In Lübeck liegt sie noch etwas weiter vom Stadtzentrum entfernt. Die Frage nach dem Bruder wird mir immer wieder begegnen.