Dieser Tage wurde die Leuchte fertiggestellt, die innerhalb des Denkmals auf diejenige in Pacific Palisades/Los Angeles verweist, die dort vor dem Haus steht, das Thomas Mann mit seiner Familie während seines Exils in Kalifornien bewohnte, dem heutigen Thomas Mann House. Die Kunstgießerei Anton Gugg hat dafür einen Aluminiumguss angefertigt. Damit ging abermals ein längerer Prozess zu Ende: Nach Fotos, die ich 2019 gemacht hatte, und nach Plänen der Public Works Los Angeles wurde ein digitales Modell der Leuchte gezeichnet, vom Künstler Florian Froese-Peek, mit einem 3‑D-Drucker in ein dreidimensionales 1:1 Modell aus Kunststoff übertragen, dann im Ausschmelzverfahren gegossen. Ich hatte Pacific Palisades im Herbst 2019 besucht – siehe der Blogeintrag. Lange hatte ich recherchiert und mich bemüht, eine Leuchte von dort zu bekommen – was sich als schwierig herausstellte. Auch der Transport nach Deutschland wäre ein langwieriges Unternehmen gewesen, wie ich am Beispiel der in den USA produzierten Leuchte nach dem Modell in New York feststellen musste. Letzen Endes habe ich mit der Reproduktion den Rat von Bob Gale befolgt, Drehbuchautor und Filmproduzent (unter anderem „Zurück in die Zukunft“), der in der Nachbarschaft wohnt. Er schrieb damals: „My suggestion is that you have the fixture extensively photographed and measured, and then duplicate it in Germany. This would be the most cost effect and simple solution.“ Dieser Vorschlag kommt sicher nicht von ungefähr von einem, der in der Filmbranche zu Hause ist, in dem oft mit Requisiten und Nachbildungen gearbeitet wird. Und vielleicht passt das Konzept der Replik einer Leuchte aus den 1920/30er- Jahren mittels moderner digitaler, aber auch traditioneller Verfahren, für ein Denkmal, das in der Zukunft – voraussichtlich im Spätherbst 2023 – aufgestellt werden soll, ja auch zum Motto „Back to the Future“.
Die Jahrestagung 2021 beschäftigt sich mit Orten des Exils und der Migration und ihrem Verhältnis zu Erinnerungskulturen und regt den Austausch zwischen der Exilforschung und anderen Forschungsrichtungen an, die sich mit (erzwungener) Migration und Flucht befassen.
Mehr Informationen, Programm und Ameldung hier.
Am 21. 3.2021 gab es auf Bayern 2 im Kulturjournal das Radiofeature „Schöner Schilderwald. Der Künstler Albert Coers und sein Münchner Denkmal für die Familie Mann“ von Astrid Mayerle. Hier zum Nachhören.
Nach langer Corona-Pause wieder Fahrten zu den Orten der Manns, in die Schweiz, zur Entgegennahme von Leuchten und Schildern. Zwar ließe sich das per Post senden, doch finde ich es interessant, zu den Orten und Leuten (freudscher Vertipper: Leuchten) zu fahren, selbst wenn das mehr Arbeit macht.
Die Unterschiede zwischen den einzelnen Manns und ihrer Rezeption treten auch in den Straßennamen und ihren Schildern zutage. Frankfurt ist eine der wenigen Städte – neben München die einzige – in der eine Straße oder ein Platz nach Klaus Mann benannt ist. Ich rufe bei der Stadt Frankfurt an und frage nach dem Schild, um es ins Denkmal einzubauen. „Thomas Mann können sie gleich haben, Klaus Mann haben wir leider gerade nicht“ ist die Auskunft.
Nachts im Bus nach Curitiba, einer Großstadt etwa sechs Stunden von São Paulo Richtung Westen, wo es eine weitere Rua Thomas Mann gibt, die ich noch besuchen will. Klasse „Leita“ („Bett“) – die Sitze lassen sich fast bis zur Waagrechten klappen, es ruckelt trotzdem ganz schön. Freue mich darauf, dem Freitag-Feiertagsbetriebs des Allerheiligentages in São Paulo zu entfliehen, in aller Frühe (4.30) in einer Stadt anzukommen, deren Name mir bis dahin unbekannt war.
Die Luft ist mild, kühler als in São Paulo, es zwitschern Vögel, große Bäume am Busbahnhof, ihr mattes Grün in der Dämmerung angenehm. Es wird Tag. Pastellfarbene Hochhäuser tauchen auf, Schnellstraßen. Curitiba scheint wie eine sauberere, grünere und kleinere Version von São Paulo (bei 1,7 gegenüber 12 Millionen Einwohnern), in der sich die Stadtutopien der 1950er und 60er Jahre entfalten konnten und nicht überwuchert wurden. Hellviolette Blüten an den Bäumen und auf dem Pflaster.
Warten auf einen Bus, neben einer Hinweistafel zur
Stadtgeschichte, mit Klebebuchstaben, die sich gelöst haben. Abgeblättert
ergeben sich neue Kombinationen und Wörter.
Das Oskar-Niemeyer-Museum – mir bislang unbekannt und riesig, wie die Bauwerke und Monumente des Brasilia-Architekten allgemein: ein auf einem Pfeiler-Sockel schwebender Körper, durch zwei flach gespannte und spitz aufeinandertreffende Bögen gebildet, an den Seiten verglast, durchaus beeindruckend. Keine Furcht vor großen Zeichen und Formen, eine Architektur-Skulptur. Vielleicht zu viel „Zeichen“. Auge-Sehen-Kunst-Museum – die Assoziationskette läuft mir zu glatt ab.
Mit einem Leihrad, das gerade jemand vor dem Museum abstellt, Richtung Rua Thomas Mann. Trickreich: man darf sich nur innerhalb eines bestimmten Gebietes bewegen und nur dort das Rad abstellen. Radle los, einem Radweg nach Norden entlang. Unterwegs komme ich an einer Ansammlung niedriger weißgestrichener Holzhäuser vorbei, die an ein Schtetl erinnert, ein Freilichtmuseum und zugleich Gedenkort an die polnischen Immigranten im 18. und 19. Jahrhundert nach Brasilien (Bosque João Paulo II.). Diese Präsenz europäischer Migration, gerade aus Mittel- und Osteuropa, lässt wiederum an die Familie Mann denken, in der Thomas‘ Großvater mütterlicherseits, Johannes Ludwig Bruhns, von Lübeck nach Brasilien übersiedelte – ich hatte über diese Geschichten der Einwanderung ja auch einiges in São Paulo erfahren, unter anderem im Gespräch mit Matthias Makowski und Jörg Hayer vom Goethe-Institut.
Hier in Curitiba führt der Weg zu einem Park und See. Weiter reicht die Zone nicht – abstellen und zu Fuß weiter. Am Rande des Parks will ich abkürzen und stoße auf einen Drahtzaun – ein Loch lässt mich durchschlüpfen. Dahinter Urwald – oder was ich mir darunter vorstelle. Der Boden dicht bewachsen mit Farnen und Gebüsch. Wie auf einem Bild von Thomas Struth. Angrenzend Grundstücke, Mauern, Zäune. Um herauszukommen, muss ich über einen klettern.
Durch eine Gegend mit kleinen und größeren Villen. Danach wird es sehr ländlich, niedrige einstöckige Häuser, neben der Straße ein Bach mit Hütten und Gärten. Hier haben sich als erste polnische Einwanderer niedergelassen, wie ich später erfahre, und in der Tat könnte man sich an osteuropäische Landstriche erinnert fühlen.
Endlich die Rua Thomas Mann, im Viertel Barreirinha, wie auf den Schildern quasi als Untertitel steht. Unspektakulär, eine ganz normale Straße – und gerade darin interessant. Die Straße scheint „ein ganz klein wenig netter als die in São Paulo“. So schrieb mir nach einem virtuellen Rundgang schon Fredric Kroll, Experte für die Familie Mann, besonders für Klaus, und deren Rezeption. Und in der Tat, jetzt vor Ort wird das auch im Detail sichtbar: Der Mast ist weniger bröckelig, das Schild unzerknautscht, in besserem Zustand als sein dortiges Pendant. Intelligent die Anbringung, die ohne Verschraubung auskommt.
Gerade als ich Fotos mache, nähert sich ein Auto mit offener Heckklappe, den Kofferraum voller Kartons, und hält an der Einmündung zur Hauptstraße, unter dem Straßenschild. Per Lautsprecher werden Haushaltswaren wie Töpfe, Pfannen angeboten. Einbruch der Gegenwart und schöner Kontrast zu „Thomas Mann“.
Der Mast am anderen Ende der Straße ist sogar mit zwei Leuchten bestückt, die in unterschiedliche Richtungen weisen – und ganze Bündel von Leitungen laufen auf ihn zu, führen von ihm weg. Thomas Mann als Knotenpunkt im Beziehungsgeflecht, könnte man frei assoziieren. Auch sein Name ist eingebettet in ein Assoziationsfeld: Die Nachbarstraße ist benannt nach einem Namensvetter und europäischen Schriftstellerkollegen, der freilich einer ganz anderen Epoche angehört, Thomas Morus, Autor von „Utopia“. Vielleicht lief die Auswahl der Straßennamen tatsächlich über den gleichen Vornamen und den Anklang des Nachnamens. Auch fungieren weiter überwiegend philosophische Schriftsteller wie Montesquieu und Voltaire als Namensgeber, und es könnte sein, dass Thomas Mann hier in seiner Eigenschaft eben weniger als Romancier denn als politisch-philosophischer Schriftsteller und Essayist gewählt wurde.
Interessant in puncto „Stadtmobiliar“ finde ich auch die Müllständer vor den Häusern. Auf Metallpfosten, um Abstand zum Boden zu schaffen und Ratten und Ungeziefer fernzuhalten, thronen skulpturale korbartige Behälter, in die man seine Mülltüten stellen kann. Boden und Seitenflächen sind ornamental durchbrochen, was der Belüftung zugute kommt. Die Anwohner haben die Ständer variiert und angepasst, sie sehen immer etwas anders aus.
In der Nähe zeichnet sich hinter einer Schule und Bäumen ein seltsames Bauwerk in leuchtenden Farben ab, ein Leuchtturm, wie man ihn hier im Binnenland nicht erwarten würde. Es ist der „Farol do Saber Antonio Machado“, eine kommunale Bibliothek, eingerichtet 1996. Von diesen Turm-Bibliotheken hat die Gemeinde Curitiba über 40 im Stadtgebiet verteilt. Die Bibliothek ist gleichzeitig auch Denkmal für den spanischen Schriftsteller Antonio Machado, 1875 geboren, im selben Jahr wie Thomas Mann! Inspiriert ist der Bau inspiriert vom legendären Leuchtturm und der Bibliothek des antiken Alexandria, zwei ganz unterschiedlichen Einrichtungen, die jetzt hier symbolisch verknüpft werden – was aber besonders interessiert, da Stadt und Name für mich Ausgangspunkt mehrerer Rechercheunternehmen und Installationen waren, siehe das Projekt ENCYCLOPEDIALEXANDRINA. Diese Bezugnahme lässt die hohe Bedeutung erahnen, die man an einer Stadtteilbibliothek beimisst, ein Leuchtturmprojekt gewissermaßen für das Stadtviertel. Ein schöner Zufall, dass die Leuchten-Metapher sich in unmittelbarer Nachbarschaft befindet zu den Straßennamen-Leuchten mit dem Namen Thomas Mann.
Zurück zum Park, zum Rad, das da noch steht, dann wieder in die Innenstadt – mit einem Zwischenstopp an einem monumental-pompösen Granit-Denkmal für die Unabhängigkeit der Provinz Paraná aus den 1950er Jahren (Platz des 19. Dezember) – zum Busbahnhof. Rückfahrt nach São Paulo. Sehne mich nach Ruhe.
Im Bus Notizen über Curitiba und das Gesehene – doch dann stürzt word ab, die Datei ist verschwunden. Nur noch vage Erinnerungen an einen Text und einen Aufenthalt, den ich viel später versuche zu rekonstruieren.
Von Los Angeles nach São Paulo, auf der Suche nach den Manns, nach Straßennamen und ‑leuchten. Zunächst hatte ich gedacht, einmal auf dem amerikanischen Kontinent, fahren wir auch nach Südamerika – und die Strecken unterschätzt. Was auf der Karte nur eine Handspanne entfernt scheint, sind in Wirklichkeit ca. 10 000 km Luftlinie. Auf dem Landweg innerhalb des gesetzten Zeitrahmens kaum möglich – also doch wieder ein Langstreckenflug.
Die
Entfernung ist auch groß bezogen auf die Manns, ihre Biographien und ihre
Rezeption: In Nordamerika lebten und arbeiteten sie lange Jahre, wurden teils
auch US-Staatsbürger; Michael blieb dort, Elisabeth ging nach Kanada. Trotz
dieser Präsenz haben sie keine Spuren in Form von Straßennamen hinterlassen.
Auf dem südamerikanischen Kontinent dagegen war von den Manns kaum jemand, und Thomas schon gar nicht. Trotzdem gibt es mehrere Straßen, die nach ihm benannt sind, unter anderem in São Paulo und Curitiba. Womit hängt das zusammen? Wohl mit dem hohen Stellenwert von Literatur in Südamerika allgemein und der Migrationsgeschichte von Deutschen zwischen diesem Kontinent und Europa im Besonderen, wie sie gerade in der Familie Mann deutlich wird: Manns Mutter Julia Silva-Bruhns stammte aus Brasilien, als Tochter von Maria de Silva, aus portugiesischer Familie, und des Lübecker Kaufmanns Johann Ludwig Bruhns, der nach Brasilien ausgewandert war und dort, in São Paulo, eine Firma gegründet hatte. Nach dem Tod seiner Frau ging er mit seinen Kindern nach Lübeck zurück.
In der Biblioteca Mario de Andrade, der zentralen Stadtbibliothek in São Paulo, entdecke ich in der Sektion zur Geographie Brasiliens, neben Würdigungen brasilianischer Fußballspieler, auch eine Biographie der Brüder Mann. Die gehören also auch zur hiesigen (Kultur)Landschaft. Nigel Hamilton betont das brasilianische Erbteil der Mutter und ihren Einfluss auf die literarische Karriere der Söhne, auch ihre politische Haltung: Gerade Heinrich habe viel von der Mutter geerbt, den kämpferischen, leidenschaftlichen, radikalen Geist, während Thomas eher dem Vater nachgeschlagen sei … Nichtsdestotrotz sind Straßen nach Thomas, nicht nach Heinrich benannt.
Die Rua Thomas Mann in São Paulo ist eine Seitenstraße im nördlichen Quartier Casa Verde, wieder einmal etwa anderthalb Stunden Busfahrt vom Zentrum aus, geprägt durch eine Mischung von kleinen Läden, Restaurants und Autowerkstätten. Von Ästhetik ist hier im praktisch-angewandten Sinn die Rede: „Estetica automobilista“ heißt eine Werkstatt, wo geschliffen und lackiert wird.
Thomas Mann befindet sich in Gesellschaft von brasilianischen und internationalen Schriftstellerkollegen, wie dem portugiesischen Lyriker Armando da Silva Carvalho, nach dem die Hauptstraße benannt ist, aber auch von Intellektuellen, die mit Sprache insgesamt zu tun hatten: eine Querstraße zuvor trägt den Namen des Esperanto-Begründers Zamenhof.
Es gibt zwei Arten von Straßenschildern: die offensichtlich älteren an Hauswänden, mit einem weiteren Schild mit Zusatzinformation zur Person, hier „escritor“ und den Lebensdaten. Durch gelben Putz sind die Schilder hier eingerahmt und teilweise überdeckt, sehen aus wie festgemörtelt. Da sie so mit der Architektur verbunden sind, wäre es schwierig, sie in München zu integrieren. Und in dem Fall, bei dem ich schon vorhabe, ein Schild an eine Wand anzubringen, der Rue Thomas Mann aus Paris, muss ich mich noch mit dem Denkmalschutz auseinandersetzen. Zum Glück gibt es aber auch die Variante der Schilder an den Leuchten.
Das Straßenschild weiter unten ist arg zusammengeknickt und ‑gestaucht. Es sieht aus, also ob ein Olaf Metzel hier zu Werke gegangen sei, gewinnt aber gerade in seinen Faltungen eine plastisch-dekonstruktivistische Qualität, die mir sehr gut gefällt. Am liebsten würde ich es gleich mitnehmen.
Wahrscheinlich sind es hohe LKWs gewesen, die das Schild touchiert haben. Wie hoch ist es eigentlich gehängt? Das interessiert mich, auch im Hinblick auf die Münchener Installation.
In der Hauptstraße gehe ich auf die Suche nach einem Werkzeug zum Messen. Im Laden einer alten Dame, die Katzenfutter und Waschmittel anbietet, werde ich leider nicht fündig. In einem Geschäft für Haushalts- und Handwerksbedarf (in Italien wäre es eine mesticceria) sehe ich Meterstäbe, kürzer als die europäische Variante, dafür dicker. Ich entscheide mich dann aber für ein gelbes Metallmaßband. Und messe am Mast herum, messe, wie hoch das Schild mit dem Namen Thomas Mann gehängt ist. Gar nicht so einfach, denn das Band mit seinen drei Metern reicht nicht bis hinauf. Es sind 3,40 Meter, damit höher als in München.
Früh gehen die Straßenleuchten an, etwa um halb sechs, noch vor der Dämmerung. Allerdings nur in manchen Straßenzügen, den Hauptstraßen. Die Seitenstraßen und damit auch die Rua Thomas Mann bleiben noch unbeleuchtet. Es scheint sich um ein Energiesparkonzept zu handeln, das bestimmte Straßenzüge priorisiert – so wie Fluggäste in der 1. Klasse das Essen zuerst bekommen. Ich drehe mehrere Runden, man kennt mich inzwischen im Viertel schon, und endlich gehen auch die Leuchten in den Seitenstraßen an, geben ein rötlich-gelbes Licht – bis auf die eine in der Rua Thomas Mann! Als ob sie sich bewusst verweigern würde. Das könnte überhaupt ein weiteres Konzept sein, um Verbindung und Transfer zu verdeutlichen: Jeweils die eine Lampe leuchtet nicht – aber dafür ihr Pendant in München! Das Licht wäre gleichsam umgeschaltet, umgezogen.
Ich räume das Feld und hoffe, in den nächsten Tagen von der Stadtverwaltung eine Leuchte bekommen zu können. Auf der Rückfahrt durch die dunkelnde Stadt schlafe ich im Bus ein, trotz des Stop-and-Go im Feierabendverkehr.
1941 siedelten Katia und Thomas Mann von Princeton an die Westküste, nach Los Angeles über – ausschlaggebend ist die Aussicht, in einer selbstgebauten, nicht mehr gemieteten Villa wohnen zu können, damit den Emigrantenstatus hinter sich zu lassen und in den USA Wurzeln zu schlagen. Dazu kommen Landschaft und Wetter: „der Himmel ist hier fast das ganze Jahr heiter und sendet ein unvergleichliches, alles verschönendes Licht“ (TM an Hermann Hesse).
Haus Thomas Manns, ca. 1942; Design & Architecture Museum; University of California, Santa Barbara
Mich hatte man dagegen gewarnt: „You may give going to LA some serious thought. Things there are pretty tough.“ So zum Beispiel ein Fahrer, mit dem ich an der Ostküste, in Maine unterwegs war.
Und auch Georg Blochmann, Direktor des Goethe-Instituts in New York, zeichnet ein düsteres Bild: LA sei ein Symbol für das Scheitern des American Dream, mit extremer sozialer Segregation und der Dysfunktionalität öffentlicher Infrastruktur, unter anderem des Nahverkehrs.
Es wird beim Aufenthalt um Kontraste gehen. Im Sozialen, zwischen öffentlich und privat, dem Licht der Metropole und ihren Schattenseiten.
Insofern interessiert mich der öffentliche Nahverkehr, und wie sich damit in dieser vom Auto dominierten Stadt der Weg zum ehemaligen Haus von Thomas Manns bewältigen lässt – auch wenn der in LA nie mit dem Bus, sondern immer im eigenen Wagen gefahren ist bzw. wurde (er hatte keinen Führerschein, im Gegensatz zu Katia und seinen Kindern, von denen besonders Erika und Elisabeth leidenschaftliche Autofahrer waren, wohl ein Terrain der weiblichen Manns).
Es dauert alles recht lang, funktioniert aber insgesamt überraschend gut. Wieder werden es die auch für andere Städte schon typischen anderthalb Stunden, um vom Stadtzentrum zum mit den Manns verbundenen Ziel zu kommen. Es geht nach Pacific Palisades, am hügeligen Westrand der Metropole. Diesmal liegen an der Peripherie keine Problemviertel oder Pendlervorstädte, sondern Villen. Mit dem Bus Richtung Santa Monica und Beverly Hills, dann in Westwood ein weiterer;
An der Haltestelle Sunset/Capri aussteigen, den San Remo Drive hinauf. Schon die Bezeichnung „Drive“ deutet darauf hin, dass man sich hier normalerweise (auto)fahrend fortbewegt. Üppige Gärten, Palmen, es wird gekehrt, gemäht, meist von Hispanics oder Schwarzen. Nach mehreren Wendungen eine Stelle, die mir aus meinen virtuellen Rundgängen per Google Earth bekannt vorkommt, wo hohe Hecken und Bäume eine mauerartige Ecke bilden, hinter der dornröschenhaft das Haus liegt. Hier scheint sich wieder das Bedürfnis nach Privatheit zu manifestieren; und die Zeit hat das Übrige getan.
Eine Leuchte ist im Gebüsch eingewachsen. Eine weitere steht der Einfahrt von Nr. 1550 gegenüber; an ihr die Straßennamen „Monaco Drive“ und „San Remo Drive“, was das Mittelmeer, die mondänen Küstenstädten der Riviera (das Viertel heißt auch so) aufruft, an deren Flair Los Angeles gerne teilhat. Doch könnte man (italienisch) „Monaco“ auch mit „München“ assoziieren, und wäre damit bei Thomas Manns früherem Wohnsitz.
Wie in New York ist interessant, wer für die Leuchten zuständig ist und Informationen dazu geben kann. Es ist das städtische Bureau of Lighting, dem ich einen Besuch abgestattet habe. Doch nehmen in dieser „residential neighborhood“ auch die Anwohner selbst Anteil. Bob Gale, Autor des Drehbuchs und Co-Produzent von „Zurück in die Zukunft“ wohnt in der Gegend (übrigens auch Armin-Mueller-Stahl, der Thomas Mann in der Serie „Die Manns“ verkörperte), ist Präsident des hiesigen Hausbesitzervereins und kennt sich bestens mit den verschiedenen Lampentypen und ihrer Geschichte , schickt sogar Fotos von ihnen. Als ökonomischste Methode der Lampenbeschaffung empfiehlt er die Rekonstruktion in Deutschland – wohl auch, weil er aus der Filmbranche kommt.
Die Frage nach Original/Rekonstruktion wird mich noch weiter beschäftigen; Sie ist auch relevant für das ehemalige Wohnhaus von Thomas Mann und den Umgang damit. Zunächst einmal bin ich aber ganz glücklich, die Leuchten in ihrem räumlichen Zusammenhang vor Ort zu sehen.
Die Leuchten berichten, gerade wenn sie so eingewachsen und marode im Gebüsch stehen, von der Ambition der Stadt, ihrer Grandezza, von ihrer Fassadenhaftigkeit. In den 1920er bis 1940er Jahren installiert, standen sie hier, als Thomas Mann in sein neuerbautes Domizil im Bauhausstil einzog – das gegenüber den historisierenden, üppigen Lampen moderner war.
2016 erwarb der deutsche Staat das Haus und richtete es als Thomas Mann House als Aufenthaltsort für Stipendiaten, als Ort für Begegnungen und Veranstaltungen ein. Nikolai Blaumer, Programmdirektor, führt mich durch Haus und Garten. Die Bibliothek wird rekonstruiert, Bücher treffen ein, aus vielerlei Orten und Institutionen, u.a. Yale .
Der Eindruck: hier lässt es sich gut arbeiten. Die Einrichtung funktional, neu, bequem, ohne übermäßigen Luxus. Auch der Bezug zu Thomas Mann ist angenehm zurückhaltend: Einige Fotos, aber keine hagiographische Inszenierung, bei der die Person des ehemaligen Hausherrn einen auf Schritt und Tritt verfolgen würde. Begegne Stipendiaten, u.a. dem Germanisten Stefan Keppler-Tasaki. Wir sprechen über das Denkmalprojekt. Mit den Manns und deren Zeitgenossen kennt er sich gut aus.
Wie im Garten mit seiner hohen Hecke, so gibt es auch in der Architektur Elemente, die abgrenzten und einen eigenen Raum betonen: die von der Ecke des Arbeitszimmers nach vorn gezogene Mauer, die, auf Wunsch Thomas Manns angelegt, Blick- und Lärmschutz gewähren sollte.
Vom Garten aus hat man einen Blick hinüber zur Hügelkette mit dem ehemaligen Haus von Lion Feuchtwanger, heute als Villa Aurora ebenfalls Residenz, für Künstler, Schriftsteller, Musiker. Daneben liegt das Getty Museum. Noch weiter entfernt, thronend auf einer Anhöhe, das Getty Center. Die Gegend ist voller großer Namen, Institutionen und Gebäude.
Als ich vom San Remo Drive zurückkehre, erwische ich spurtend gerade den Bus, der in die Stadt fährt – mit derselben Busfahrerin wie bei der Hinfahrt – und lässig begrüßt mich ein Mann im mintfarbenen Shirt: „Take a seat, relax, cold drinks will be served.“ Kalifornische Entspanntheit.
Einige Tage später bin ich erneut im ehemaligen Haus der Manns. Francis Fukuyama hält einen kurzen Vortrag, nach dem Vorbild der Radio-Ansprachen „Deutsche Hörer!“ Thomas Manns in den 1940er Jahren. Fukuyama erwartet als Reaktion auf Trump ein Erstarken der Linken/Liberalen, und sieht „not too pessimistic“ in die Zukunft.
Beim kleinen Empfang danach treffe ich unter anderem zu meiner Überraschung Thomas Demand, der bereits seit zehn Jahren in LA lebt. Er legt mir im Hinblick auf das Denkmal Chris Burdens Installation aus hunderten von Straßenleuchten vor dem LACMA ans Herz. Sie hat es zum Liebling des Publikums, zum Wahrzeichen des Museums, ja sogar der Stadt gebracht, indem dort allgegenwärtige Elemente des öffentlichen Raums, mit dem sich Bewohner identifizieren, konzentriert zusammengebracht und streng nach ihrer Größe geordnet sind – so dass sich der Eindruck einer mehrschiffigen Halle ergibt, die zum Flanieren einlädt. Die Installation ist zudem äußerst fotogen.
Ich fühle mich für einen Moment den Stipendiaten zugehörig; es sind neben denen des Thomas-Mann-Hauses auch welche von der Villa Aurora da. LA erweist sich als interessanter Hotspot, trotz oder gerade wegen der starken Kontraste, von architektonischen Landmarks und grassierender Obdachlosigkeit, von Glanz und Verwahrlosung. Ich bedaure es, dass ich nicht noch länger bleiben kann. Die Weiterreise nach Brasilien steht an, nach São Paulo, damit der letzten Station.
Dabei werde ich zufällig jetzt, am Ende des Aufenthalts, zur Evakuierung aufgefordert: es brennt. Als beim Besuch in der Villa Getty, einer rekonstruierten Villa aus Pompeji, Rauchwolken am Himmel stehen und es Asche regnet, ist das seltsam passend.
Von Halifax, dem Wirkungsort von Elisabeth Mann-Borgese, geht es auf dem Landweg zurück in die USA, zunächst per Bus nach Saint John, noch in New Brunswick, Kanada. „From here, you’ll be pretty much on your own“, meint der Busfahrer beim Aussteigen. Da hier Richtung Grenze keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr fahren, versuche ich mein Glück per Anhalter – und finde mich wieder an einer Straße mit dem schönen Namen „Hope Street“. Es dauert. Aber es stimmt schon: „Wenn es einmal läuft, ist das Trampen unvergleichlich“ (Walter Scherf). Mit Trucks und Autos geht die Fahrt durch das herbstliche Maine nach Bangor, von da aus wiederum mit Bussen nach New York.
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Von dort aus führt die Route coast-to-coast, über Chicago, San Francisco nach Los Angeles, wo das ehemalige Haus von Thomas Mann in Pacific Palisades Ziel ist. In Chicago nehme ich einen Zug mit dem einschmeichelnden Namen „California Zephyr“. Das suggeriert eine Windeseile, die so doch nicht ganz zutrifft: Die Fahrt von Illinois nach Kalifornien dauert immerhin drei Tage. Das ist sicher nicht die schnellste und effizienteste Art zu reisen. Aber ähnlich wie bei der Fahrt nach Nida in Litauen geht es darum, ein Gefühl für Entfernungen zu bekommen, mit einer ähnlichen Geschwindigkeit unterwegs zu sein wie die Manns – und auch Landschaft zu sehen, zu erfahren. Die Langwierigkeit und das gemächliche Tempo passen zudem zu Thomas Manns literarischem Stil. Am Ende, in der Nähe von San Francisco, wird der Zugchef die Fahrgäste verabschieden und von „epic journey“ sprechen.
Ab Denver durch die Rocky Mountains, in denen schon dünne Schneefelder liegen und Flussläufe eisgesäumt sind, dann am Colorado entlang; Felsmauern, Canyons, man glaubt, in einem Film zu sein, einem Western, etwa in Rio Grande oder 3.15 to Yuma. Man schaut die Abhänge hinauf, ob nicht Reiter herunterkommen, hört, ob sich Hufgetrampel in das Ruckeln des Zuges mischt.
Die Sonne geht unter, taucht die Felswände in rötliches Licht. Ich genieße die Szenerie, blende aus, weswegen ich unterwegs bin. Thomas Mann und seine großbürgerlich-hanseatische Welt sind Lichtjahre entfernt – scheint es. Ich komme mit einem Mitreisendem ins Gespräch, einem älteren Herrn; er hat mich mit meiner großformatigen USA-Karte hantieren gesehen, auf der ich versuche, den Streckenverlauf nachzuvollziehen, und fragt, ob die Gegend hier auch darauf zu finden sei; wir sind in Utah, bewegen uns auf Salt Lake City zu.
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Nach dem Woher und Wohin und Weswegen gefragt, erzähle ich vom Denkmalprojekt. Wie nochmal der Name des Schriftstellers laute? fragt der Herr mich – nickt dann zustimmend: „I’m just now reading Buddenbrooks“ und holt einen abgegriffenen blauen Leinenband hervor, auf dem man kaum den Titel mehr lesen kann – aus der Public Library in San Diego.
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Was für ein Zufall, oder, wie mir aus Filmen im Ohr ist, wenn Menschen oder Dinge zusammentreffen, die nach dem geringen Grad von Wahrscheinlichkeit es eigentlich nicht tun dürften, „what are the odds“? Dass gerade in diesem Zug nach Kalifornien, genau an diesem Tag, gerade in meinem Abteil jemand die Buddenbrooks liest, diese Geschichte aus dem fernen Lübeck!
Das könnte ein Ausgangspunkt für eine empirisch-konzeptuell-performative Arbeit sein: man fährt zwischen Illinois und Kalifornien hin und her, geht wie die Schaffner durch den Zug, fragt, tippt sachte an der Schulter, ob hier jemand etwas von TM oder anderen Manns liest. Dann steckt man einen Zettel als Markierung über den Sitz. Allzuviel Zettel dürften nicht zusammenkommen.
Es ist Nacht geworden. Ich drehe mich zu meinem Mitreisenden um, er lehnt im Dunkeln. Auf dem Sitz neben ihm das Buch. Thomas Mann fährt mit.
Halifax – ich hatte zunächst gezögert, dorthin zu reisen, an die Westküste Kanadas, nach Neuschottland, von New York auf dem Landweg etwa 1400 km entfernt. Dann aber, einmal auf dem nordamerikanischen Kontinent, scheint es eine Gelegenheit, das Umfeld zu erkunden, in dem Elisabeth Mann Borgese, Thomas Manns jüngste Tochter (1918–2002, von Insidern EMB abgekürzt), über 25 Jahre gelebt hat.
Karolina Kühn vom Literaturhaus München, die 2013 eine Ausstellung zu EMB kuratierte, nennt Kontaktpersonen in Halifax und bestärkt mich in der Reiseabsicht – bereits die Landschaft dort sei es wert!
Welches Verkehrsmittel ist angemessen? EMB, leidenschaftliche Autofahrerin, fuhr die Tour in den Norden das erste Mal in einem Rutsch von 16 Stunden. Später nutzte sie aber auch den kleinen Flughafen von Halifax ausgiebig. Ich beschließe, hin zu fliegen, zurück nach New York auf dem Landweg zu reisen. Von oben sieht Nova Scotia sehr vielverprechend aus.
Ich erkunde zunächst die Gegend um Halifax, übernachte auf einer Halbinsel mit dem schönen Namen „Dead Mans Island“, ziehe an Buchten entlang, durch Wald, Gebüsch an Seen vorbei, über blankgescheuerte Granitflächen. Nach Westen sind noch die Hochhäuser der Stadt zu sehen. Auf der anderen Seite in der Ferne das Meer.
Die Straße, auf der ich nach einem Abstecher in die fast menschenleere Umgebung zwischen Stadt und Küste als erstes stoße – Princeton Road. Was für ein Zufall!
Von Princeton nach Halifax: So läßt sich ein Teil des Weges von EMB beschreiben: In Princeton kommt sie mit den Ideen einer Weltregierung in Berührung, mit politisch engagierten Emigranten wie ihrem zukünftigen Mann Giuseppe Antonio Borgese, die unter dem Eindruck von NS-Regime und Faschismus z.B. die Konferenz „City of Man“ 1940 veranstalten, an der auch Thomas Mann mitwirkt, eine Weltverfassung entwerfen. Das Meer, zu dem Elisabeth schon seit der Kindheit eine enge Beziehung hatte – siehe die Aufenthalte an der Ostsee auf Nidden – ist ihr das Gebiet, um diese idealistischen Vorstellungen umzusetzen. Sie setzt sich ein für Nachhaltigkeit und internationale Zusammenarbeit, etwa im Club of Rome – als einzig weibliches Mitlied, ihrer Zeit in mehrfacher Hinsicht voraus. 1972 gründet sie das International Ocean Institut (IOI). Fachkenntnisse eignet sich die studierte Musikerin nach Interesse und Bedarf an – darin ihrem Vater nicht unähnlich. Im Verlauf ihrer unkonventionellen, heute so kaum mehr möglichen Karriere kommt sie 1978 an die Delhousie-Universität in Halifax, immerhin mit 60 Jahren, als Professorin für internationales Seerecht.
Zurück in der Stadt besuche ich das IOI, in einem vergleichsweise bescheidenen Holzhaus in der Nähe der Universität. Die Atmosphäre ist familiär. Madeleine Coffen-Smout, Programmleiterin, Mike Butler, Direktor, und Hugh Williamson, ehemaliger Assistent EMBs, machen mich mit der Aktivität des IOI bekannt: es hat wenig direkten politischen Einfluss, stellt aber ein umfangreiches Netzwerk dar. Schwerpunkt ist das internationale Ausbildungsprogramm in politischen Wissenschaften, internationalem Recht, Wirtschaft und Management, Meereskunde. Die Kurse haben Modellcharakter, viele der Teilnehmer sind später an Schaltstellen tätig und vergrößern so das Netzwerk, das auf einen verantwortungsvollen Umgang mit den Resourcen der Meere, auf ein globales ökologisches und ökonomische Bewusstsein abzielt.
Madeleine hat Schautafeln, Bilder und Publikationen zusammengestellt, die mit EMB in Zusammenhang stehen. Dabei fällt auf, dass sie auf den meisten, besonders den frühen Fotos sehr männlich aussieht, laut eigener Aussage aussehen wollte, mit kurzen Haaren und ernstem, extra fürs Foto aufgesetztem Blick. Und in der Tat, mit der weiblichen Geschlechterrolle hatte EMB lange zu kämpfen, wollte als Mann erscheinen, sich auch leistungsmäßig beweisen, etwa durch pianistisches Können, nicht zuletzt ihrem Vater Thomas Mann gegenüber. Das interessiert mich besonders, da der Familienname ja auch als Geschlechtsbezeichnung gelesen werden kann und die Auseinandersetzung damit und mit entsprechenden bürgerlichen Erwartungen in der Familie eine Art Leitmotiv darstellt, auch bei Erika und Katja. Hier werden Gendergrenzen überschritten einerseits phänotypisch, im Sinn von androgynem Aussehen, andererseits auch im Sinn von Emanzipation. Auch schwingt der Leistungsgedanke mit – leitet der Name ‚Mann’ sich doch vom Übernamen für einen tüchtigen Menschen ab.
Bilder: Cover Holger Pils/Karolina Kühn (Hrsg.): Elisabeth Mann Borgese und das Drama der Meere, Berlin 2012.
Hugh Williamson erzählt von EMB Tätigkeit und Persönlichkeit: Sie verfolgte ihre Ziele ausdauernd und selbstbewusst, rief auch, wenn es etwa um die Ratifizierung von internationalen Abkommen ging, beim amerikanischen Präsidenten an. Inwiefern spielte ihr prominenter Familienname eine Rolle? EMB scheute sich nicht, ihn einzusetzen („Mann? That is an interesting name“), wenn es darum ging, Zugang zu bekommen und Mitstreiter für die Sache der Meere zu gewinnen.
Eine Straße ist nach EMB in Halifax und auch sonst weltweit nirgends benannt – außer in München, der Stadt, in der sie geboren und aufgewachsen ist. Es gibt aber doch einen weiteren Namensträger, ein Fortbewegungs- und Transportmittel, das in dem Element unterwegs ist, für das sich EMB enagierte: ein Schiff.
Ähnlichkeit mit dem Ausblick von einem Schiff hatte der Blick aus ihrem häuslichen Arbeitszimmer vom Schreibtisch nach draußen aufs Meer, wobei das Geländer vor dem Fenster wie eine Reling wirkt. Den Gegenstand ihrer Bemühungen vor Augen und Ohren zu haben, war ihr wichtig, neben Ungestörtheit und Konzentration.
Foto: Peter Sibbald, aus: Holger Pils/Karolina Kühn (Hrsg.): Elisabeth Mann Borgese und das Drama der Meere, Berlin 2012, S. 184.
Am Nachmittag fährt mich ein weiterer freundlicher Mitarbeiter des IOI, Dirk Werle, zu EMBs ehemaligem Haus in Sambro Head, entlang der Küste. Man fährt etwa eine halbe Stunde, durch die dünnbesiedelte Gegend, die ich zuvor erkundet hatte. Freunde und Geschwister (etwa Golo) waren damals nicht unbedingt begeistert, dass sie sich so weitab vom Schuss niedergelassen hatte, dort, wo wie jetzt, im Herbst bereits der Wind vom Atlantik her pfeift und im Winter schon mal die Leitungen einfrieren. Aber EMB wollte es so.
Foto: Dirk Werle
Das Haus wirkt bescheiden, aber schützend und gemütlich, mit zum Boden gezogenen Dächern, einer „A“-Konstruktion, jetzt etwas verwildert und eingewachsen; EMB starb ja bereits 2002. Die Hausnummer ist auf eine Holzlatte geschrieben, mit aufgeschraubter Leuchte – von der allerdings nur noch eine Fassung vorhanden ist. Auch die Straßenleuchte gleich gegenüber ist denkbar einfach: ein Holzmast aus einem Baumstamm, der gleichzeitig als Träger von Strom- und Telefondrähten dient, daran ein Ausleger.
Der Kontrast zu den Villen ihres Vaters ist eklatant, gerade nachdem ich kurz vorher das Haus in Princeton gesehen hatte. Aber wen hätte Elisabeth beeindrucken, was hätte sie repräsentieren sollen?
Zwei Zitate zu/von EMB sind mir noch im Gedächtnis: „She was an iceberg“ (Hugh Williamson), anerkennend gemeint: unbeirrbar, zielstrebig unterwegs, mit nur einem Bruchteil des Volumens sichtbar. Und: „It’s easier to get forgiveness than permission“, das im Bezug auf ihre vielen Projekte und Versuche, auf Leute einzuwirken und das zu bekommen, was sie wollte. Ich muss an das Denkmalprojekt denken, wo es ja auch viel um Genehmigungen gehen wird – da könnte ich mir eine Scheibe abschneiden …
In New York gibt es keine Straße, die nach Thomas Mann benannt wäre, auch nicht nach anderen Mitgliedern der Familie. Dafür war Mann, obwohl Nobelpreisträger und amerikanischer Staatsbürger, für die Stadt nicht dann doch bedeutend genug. Im alten Teil Manhattans sind Straßen nach für die national-amerikanische und die lokale Geschichte als wichtig erachteten Personen des 18. und 19. Jahrhunderts benannt, nach den Founding Fathers, Ingenieuren, Geschäftsleuten. Und das pragmatisch-neutrale System der Nummerierung der Straßen, das darüberhinaus für die neuere Zeit verwendet wird, kommt einer Identifikation mit Namen nicht entgegen.
Aber gibt es nicht doch etwas? Vielleicht auch nur den Familiennamen? Um die Suche interessanter zu gestalten und mehr Kontext zwischen die Finger zu bekommen, nehme ich meinen Stadtplan von 2005 zur Hand (deren Karten seit 1988 unverändert scheinen) mit „Total Index of Streets“. Da das Straßenverzeichnis nach den Five Borroughs gegliedert ist, blättere ich Stadtteil für Stadtteil durch, Manhattan, Bronx, Brooklyn, Queens: wie zu erwarten: nichts. Im letzten, in Staten Island jedoch gibt es eine „Mann Avenue“.
Das freut mich – und die Straße kommt auf die Liste der zu besuchender Orte in New York. Auch wenn sich Bedenken anmelden: Ich weiß, dass es in den USA und weltweit hunderte von „Mann“-Straßen gibt (so z.B. auch in Wien). Sie haben mit Thomas Mann und seiner Familie nichts zu tun – außer, dass sie den Familiennamen teilen. Wäre es nicht ein Fake oder zumindest ein Abweg in die Beliebigkeit, sich da einfach einen oder mehrere Straßennamen an verschiedenen Orten herauszupicken und auf diese Weise den Anschein von noch mehr Bedeutung und Internationalität der Familie Mann zu generieren?
Andererseits: ist es nicht zuletzt die Allgemeinheit des Namens „Mann“, die mich bei dem Projekt interessiert? Und beim Alexandria-Projekt, bei dem ich verschiedene Städte bereiste, die nur der gemeinsame Name verband, in Ägypten, Virginia, Italien, – ging es da nicht auch um die Mehrdeutigkeit von Namen, die „Bedeutung“, die wir ihnen zumessen?
Und so geht es zur Mann Avenue, nach Staten Island.
Wie bei den bisher besuchten (Thomas) Mann-Straßen, in Rom etwa, so liegt auch diese etwa anderthalb Stunden vom Zentrum (Manhattan, Bowery) entfernt. Mit der Subway zum Battery Park, mit der Fähre nach Staten Island, dann mit dem Bus quer über die Insel – von der ich bisher keine Vorstellung hatte, wie groß sie ist und wie weit sie sich erstreckt.
Die Mann Ave selbst – der Busfahrer, nachdem er sich buchstabierend vergewissert hat „M‑A-N‑N“?, kennt sie, was ich gar nicht erwartet hatte. Eine der vielen Querstraße zum langen Victory Boulevard. Das System der Gegensätze Street und kreuzenden Avenues ist beibehalten – obwohl die „Avenue“ wenig von ihren prominenten Verwandten auf Manhattan hat.
Ich mache Fotos, messe am Pfosten herum, „Looks good?“ fragt ein Mann, der vorbeikommt. Ob er wisse, nach wem die Straße benannt sei? Er weiß es nicht, aber interessanterweise stammen für ihn nach Personen benannte Straßen vor allem aus der jüngsten Gegenwart. „Usually they put two signs on it, like „Victory Boulevard“ and like „Billy Smith“, after a firefighter“. Er deutet stolz auf sein Poloshirt, auf dem das Abzeichen einer freiwilligen Feuerwehr eingestickt ist. 9/11 hat also in der Straßenbenennung Spuren hinterlassen, und da es keine „freien“ Straßen gab, hat die Stadt Abschnitte bestehender Straßen mit Namen versehen – als Form des Gedenkens.
Es dämmert und wird bei der Rückfahrt zur Fähre endgültig dunkel.
In New York wohnten Klaus und Erika, aber auch Thomas Mann und Katia häufig im Hotel Bedford, 118 E 40th St., zwischen der Lexington und der Park Ave. Klaus und Erika waren Stammgäste, schrieben hier u.a. am Emigrantenroman „Escape to Life“. Das Hotel, schlicht-elegante Backsteinfassade mit Einsprengseln von Art Deco, war verkehrsgünstig gelegen, nahe dem Grand Central, preislich in der Mittelklasse (die Nacht für drei Dollar) und Anlaufstelle auch für Schriftstellerkollegen. Der Sprachwissenschaftler Philipp Angermeyer rekapituliert im Artikel „Wohnen wie Klaus Mann“ diese Zeit. Dieses Hotel als Kreuzungspunkt der Familie Mann scheint mir interessant – ich suche es auf.
Heute heißt das Hotel „Renwick “, wird von der Hilton-Kette betrieben und ist „very artsy“: Türen und Wände der Lobby sind von einem Künstler bemalt und beschriftet, mit Porträts und Aussprüchen von Schriftstellern, die hier gewohnt haben, – darunter Hemingway, Steinbeck, Fitzgerald – und auch Thomas Mann, dessen Nobelpreis erwähnt ist. Von Klaus und Erika ist nicht die Rede, auch wenn sie viel länger hier wohnten als ihr Vater – vielleicht waren sie den Betreibern nicht bedeutend genug – und ein „Mann“ reichte.
In der Nähe des Empfangs ein Designobjekt aus vielfach gekreuzten Leuchtstäben. Und, gleich am Eingang, über dem Sturz der Innentür, begrüßt einen ein Zitat von Thomas Mann, das die Kunst selbst zum Gegenstand hat: „Art is the funnel, as it were, through which spirit is poured into life.“ [Kunst ist sozusagen der Trichter, durch den der Geist ins Leben geschüttet wird]. Das in Versalbuchstaben, eine Inschrift, ein Motto, unter dem man das Hotel betritt. Man darf sich als Gast damit als Teilhaber an Geist und Kunst fühlen, auf Augenhöhe mit den großen Geistern, die hier aus- und eingingen. Auf jeden Fall müssen Thomas Mann und „Kunst“ (was auch immer hier darunter zu verstehen ist) hier arg für das Marketing herhalten.
Draußen auf der Straße geht es weniger artsy zu: Als ich ankomme, ist gerade voller Betrieb, der Hoteleingang wird gefegt, die Müllabfuhr ist zu Gange, es kracht und stinkt, Taxis, Autos hupen. Zwischen und über allem steht stoisch die Leuchte (deren eine Lampe übrigens gerade ausgefallen ist, wie sich bei einem Besuch abends zeigt).
Die Straßenleuchte spiegelt in ihrer Höhe (fast neun Meter) und ihrem Design die Grandeur der Weltstadt New York und das des Bezirks in Midtown Manhattan wider – mit zwei tropfenförmigen Köpfen, wie sie hier im District stehen.
Die Leuchte ist aber auch interessant, was ihre Betreuung und den Betrieb von urbanem Mobiliar allgemein angeht: Für sie ist nicht allgemein die Kommune, die Stadt New York zuständig, sondern eine „Partnership“, ein Zusammenschluss von Geschäften und Firmen, die in diesem Quartier der Innenstadt angesiedelt sind und es betreuen, eine Art privat organisiertes Kiezmanagement, das seit den 1980er Jahren aktiv ist, der Zeit, als man die Probleme New Yorks mit Neustrukturierungen zu lösen versuchte. Es gibt verschiedene, auf der Leuchte ist das Signet der Grand Central Partnership angebracht. Im Hintergrund tauchen Fragen auf: Wer kümmert sich um die öffentlichen Einrichtungen einer Stadt, wie ist sie organisiert, wem „gehört“ eine Stadt?
Nidden/Nida auf der kurischen Nehrung in Litauen also, wo Thomas Mann sich 1929 ein Ferienhaus bauen ließ – und es 1930 am 16. Juli bezog. Um diese Zeit findet seit 23 Jahren hier im Haus, jetzt Museum, ein Thomas-Mann-Festival mit Lesungen, Vorträgen und Konzerten statt.
Ich reise an mit Zug, Bus und Fähre, zwei Tage, etwa so lange, wie es auch zu Zeiten der Manns dauerte, um die Entfernung zu erfahren.
Im Haus höre ich u.a. Jindrich Mann, Enkel von Heinrich Mann, versuche ein Gefühl für Ort und Landschaft zu bekommen, spreche mit Mann-Experten und Vertretern von Institutionen über das Denkmalprojekt.
Interessant, dass Thomas Mann 1930 hierherkam, und die zwei folgenden Sommer hier verbrachte, also die letzten Ferien vor der Emigration. Die selbstgewählte Reise, Entfernung gegenüber der unfreiwilligen, erzwungenen. Nidden als ein „Refugium, vielleicht sogar eine Art Vor-Exil“, wie Frido Mann schreibt.
Ich unterhalte mich mit Uwe Naumann, Philologe, Lektor bei Rowohlt und intimer Kenner der Familie Mann, über das Denkmalprojekt. Es taucht die Frage auf: Wie kann man deutlich machen, dass Internationalität und häufiger Ortswechsel eben nicht durch Reiselust und Tourismus, sondern größtenteils durch Emigration bedingt waren? Thomas Mann sei der sesshafteste Mensch gewesen, den man sich vorstellen könne – und wäre sicher weiter in München geblieben. Es handle sich also um ein „erzwungenes Weltbürgertum.“ Die Unterscheidung ist nicht leicht zu treffen, da die Manns ja auch in der erzwungenen Fremde über Mittel und Unterstützer verfügten, um einen gehobenen Lebens- und Reisestil aufrechtzuerhalten, und die Orte der Mannschen Emigration ja nicht die hässlichsten waren: Beispielsweise Sanary-sur-Mer an der Côte d’Azur, wie Nida ein Küsten- und Badeort, der sich zur Anlaufstelle von Emigranten entwickelte, und den ich im Herbst 2020 besuchen werde.
Das kann wohl nur durch zusätzliche Bild- und Textinformationen geschehen, und indem man die Leuchten und ihre Orte zusammendenkt. In Nidden beispielsweise steht die Leuchte ja vor einem Ferienhaus, einem festen Gebäude, das bewusst für längeren, wochen- und monatelangen Aufenthalt geplant und in Auftrag gegeben wurde. Mit seinem breiten Dach, dem Walm aus Reet, strahlt es den Wunsch nach Sesshaftigkeit und Verwurzeltsein aus. Es ist gebaut in Anlehnung an traditionelle, ortstypische Bauweise, eine Fischerhütte oder besser, ‑kate, mit den gewachsenen Materialien Holz und Reet, dem Regionalität signalisierenden Preußisch-Blau auf den Stirnseiten des Dachs, den Fensterläden und ‑rahmen.
Ein Gespräch mit Lina Motuzienė, Leiterin des Thomas-Mann-Kulturzentrums, gerät schnell ins Praktische: Sie telefoniert mit einer Mitarbeiterin der Neringos Komunalininkas, des hiesigen Bauhofs, der für die Kommunen der Nehrung zuständig ist, und kurz darauf radle ich los, um dort eine Lampe in Augenschein zu nehmen. Somit bieten sich auch Blicke hinter die Kulissen von Nida. Bald finde ich mich in einer Werkstatt wieder, auf dem Tisch eine Leuchte, die ich gleich mitnehmen könne – und auf litauisch und englisch diskutieren wir über Maße, Leuchtmittel, Gewicht und die Frage, ob es diese sein könne oder das „Original“, das mir am liebsten wäre – bis zwei Mitarbeiter hereinkommen und feststellen, das auf dem Tisch sei nicht das vor dem Kulturzentrum verwendete Modell, sondern ein kleineres, und das „richtige“ hereinbringen – in der Tat eine Nummer größer und schwerer. Die Leuchte wird angeschlossen und getestet, und in der Tat, das ist das rötliche Licht, das abends auf den Straßen, Plätzen und Uferpromenaden zu finden ist. Sie bieten an, die Leuchte gleich gegen die vor dem Thomas-Mann-Haus auszutauschen. Wir fahren los.
Wiederum geht es schnell: Die Leuchte vor dem Haus wird abgebaut, im Bibliotheksraum zwischengelagert und mir übergeben – eben am 16. Juli!
Eine schöne Szene: Im Vordergrund installieren zwei Mitarbeiter von Neringos Komunalininkas eine Leiter und montieren die Lampe ab, gerade neben dem Hinweisschild auf das Museum. Im Hintergrund das Ferienhaus, aus dem durch die offene Tür der Veranda wohlartikulierte Sätze über Nidden tönen, die Charakteristik der Landschaft und ihrer Menschen – Texte von Thomas, gelesen von Frido Mann.
Als die Leuchte heruntergehoben ist, sieht man ihre Oberseite zart bedeckt von hellgrauen Flechten – stand sie doch unter Kiefern, wo Feuchtigkeit und Schatten für ein günstiges Klima sorgten. Auf diese Weise wird mit der Leuchte auch ein Stück Ostsee-Flora nach München importiert.
Der Vortrag von Uwe Naumann über die Manns und das Meer fügt sich an diesem Tag insofern ganz gut, als der erste Teil meiner Rückreise ja auch über die Ostsee stattfinden wird, mit der Fähre nach Kiel.
Seine vorhergehende Lesung der Geschichte „Das Eisenbahnunglück“ von Thomas Mann passt auch, zumindest was das Verkehrsmittel ab Kiel betrifft … An die Dramatik der Erzählung reicht die Fahrt nicht heran – auch wenn es DB-bedingt verschiedene Zwischenfälle gibt, die in einer Verspätung von anderthalb Stunden resultieren – was jedoch nur halb solang wie in der Geschichte ist.
Vielleicht ist es nicht schlecht, vom Ende, von der letzten Station der Manns her anzufangen. Eine Fahrt nach Zürich – und ins nahegelegene Kilchberg, wo Thomas Mann, Katia, Erika und Golo nach der Rückkehr aus dem Exil in den USA ab 1952 wohnten und auf dem Friedhof zusammen mit Michael, Monika begraben sind. Von besonderem Interesse: Die Leuchte vor dem Wohnhaus, auf einer älteren Schwarzweiß-Aufnahme in der Rowohlt-Monographie über die Familie Mann prominent zu sehen, jedoch über Google Street View nicht, ebensowenig das Straßenschild „Erika-Mann-Strasse“ in Zürich, die es seit kurzem gibt. Und Bilder aus anderen Quellen finden sich im Netz auch nicht – so bemerkenswert und wichtig scheinen diese Straßenlaternen und Straßenschilder dann doch nicht zu sein, als dass sie fotografiert würden – vielleicht sind die Schilder auch viel zu neu. Diese Lücken in der Bild-Verfügbarkeit allein rechtfertigen bereits die Tour in die Schweiz!
Im Vorfeld, vermittelt durch Andreas Marti, der in Zürich den Kunstraum dienstgebäude betreibt, Kontakt mit Christoph Doswald, verantwortlich für Kunst im öffentlichen Raum. Ihm schildere ich mein Anliegen, und er schreibt auch gleich zurück: das Projekt klinge spannend; eine schöne Idee, die biografischen Stationen mit dem Mobiliar des öffentlichen Raums zusammenzubringen. In der Praxis stelle es sich möglicherweise etwas komplizierter dar, er können allenfalls in Sachen Zürich-Oerlikon helfen. „Was hingegen Kilchberg betrifft, so liegt das polit-geografisch nicht im unserem Territorium.“ Hier begegnet bereits ein Phänomen, auf das ich im Lauf der Recherche immer wieder stoßen werde: die Zahl der Zuständigkeiten und anzufragenden Stellen vergrößert sich von mal zu mal.
Hubert Kretschmer, Verleger, Künstler und Sammler von Künstlerpublikationen nimmt mich im Golf nach Zürich mit. Dabei ist auch Rainer Grüner, seinerseits Sammler von Künstlerbüchern. Ziel ist eine Ausstellung in der Graphischen Sammlung an der ETH (wo nebenbei auch der Nachlass Thomas Manns betreut wird). Auf diesem Kurztrip kommen ganz unterschiedliche Dinge zusammen.
Von der Ausstellung mit der S‑Bahn nach Kilchberg, am Zürisee gelegen, etwa 20 Minuten fährt man, über die Stadtgrenzen hinaus. Der Bahnhof strahlt Ruhe, Solidität und Kurortstimmung aus, mit einer Karte des Sees, einer roten Holzbank – und einer Arztpraxis gleich daneben.
Da man in den Ort nach oben steigt, gibt es viele Treppen und Durchgangssituationen. Auch damit hängt wohl das Bedürfnis nach Abgrenzung und Privatheit zusammen, ausgedrückt durch Zäune und Schilder. Aber auch sonst atmen die Anwesen eine gewisse Abgeschlossenheit. „Ruhe, Ruhe und nochmals Ruhe“ – so beschreibt Thomas Mann in einem Brief seine Wünsche. Man kann verstehen, warum er hierherzog. Dazu kommen Seeblick und Kurortatmosphäre.
Das Sanatorium in Kilchberg, an dem man vorbeigeht, lässt in Zusammenhang mit Thomas Mann unwillkürlich an den „Zauberberg“ denken, auch wenn es sich nicht um eine Lungenheilanstalt, sondern eine Privatklinik für Psychotherapie handelt. Der Ort liegt ebenfalls in der Höhe, siehe auch den Namensbestandteil „-berg“.
Das Straßenschild „Alte Landstrasse“, wo die Manns wohnten, ist solide, mit einem Rand-Rahmen eingefasst, tief geprägt, wie ein Stempel, den es der Straße und Umgebung aufdrückt. Die Buchstaben klassisch modern, schnörkel- und serifenlos, schweizerische Typografie. Sie kontrastieren mit dem Inhalt und beziehen sich auf die damalige moderne Gegenwart. Das Schild mag aus den 1950er/60er Jahren stammen, also als Thomas und Katia Mann hierherzogen.
Aus etwa derselben Zeit dürfte auch die Straßenleuchte stammen, die vor dem Haus Nr. 39 steht. Auf einem älteren Schwarz-Weiß-Foto ist sie zu erkennen, und offensichtlich noch dieselbe. Die Bäume im Hintergrund sind größer geworden, sonst hat sich nicht viel verändert. Die Gegenwart hat lediglich in Form einiger Sticker auf dem Lampenmast Spuren hinterlassen, eine geballte Faust, „FCZ“ darunter, wohl eine Drohgebärde gegen den 1. FC Zürich, und „FCK NZS“, ebenfalls auf drei Konsonanten reduzierte Wörter, deren Sinn man leicht erschließen kann. Diese Zeugnisse einer linken Szene hätte man hier, im soignierten Kilchberg, nicht erwartet.
Die Leuchte mit ihrem gebogenen Mast, lässt an eine schlanke Figur denken – nicht zufällig die Bezeichnung „Lampenkopf“ -, die aus luftiger Höhe und Distanz auf die Straße hinunterschaut. Vor der Lampe auf der Straße die schwarzen Schriftzeichen aus Teer.
Das Haus des „notorischen Villenbesitzers“ selbst, breit, mit weit vorgezogenem Walmdach, umgeben von hohen Bäumen, Zaun und Hecke. Es vermittelt Zurückgezogenheit, wirkt aber nicht abweisend. Das rostige Tor steht leicht offen, wie um hereinzubitten.
Am Pfeiler daneben eine Gedenktafel, die nüchtern feststellt, dass hier die Familie Thomas Mann wohnte, und die ehemaligen Bewohner und die Jahre ihres Aufenthalts auflistet: Thomas Mann 1954–1955, also kurz bis zu seinem Tod, Katia dann lange, bis 1980, Erika bis zu ihrem Tod 1969, schließlich Golo lange 30 Jahre. Das Understatement, das nicht von Schriftstellertum etc. erzählt, ähnlich vornehm-lakonisch wie die Grabsteine der Familie auf dem Kilchberger Friedhof. Eine abstrahierte Familie als Plastik vor dem Eingang – weder groß noch künstlerisch unbedingt wertvoll. Wohnt hier vielleicht nach den Manns (wieder) eine Familie? Darauf deutet weiter hin eine Blumenschale mit Narzissen und einem quietschbuntem Osterhasen – ein Kontrast zur sonstigen gedämpften Farbigkeit von Haus, Garten und Straße.
Das Gefühl von stehengebliebener Zeit – in der Reflexe der Gegenwart aufblitzen.