In New York gibt es keine Straße, die nach Thomas Mann benannt wäre, auch nicht nach anderen Mitgliedern der Familie. Dafür war Mann, obwohl Nobelpreisträger und amerikanischer Staatsbürger, für die Stadt nicht dann doch bedeutend genug. Im alten Teil Manhattans sind Straßen nach für die national-amerikanische und die lokale Geschichte als wichtig erachteten Personen des 18. und 19. Jahrhunderts benannt, nach den Founding Fathers, Ingenieuren, Geschäftsleuten. Und das pragmatisch-neutrale System der Nummerierung der Straßen, das darüberhinaus für die neuere Zeit verwendet wird, kommt einer Identifikation mit Namen nicht entgegen.
Aber gibt es nicht doch etwas? Vielleicht auch nur den Familiennamen? Um die Suche interessanter zu gestalten und mehr Kontext zwischen die Finger zu bekommen, nehme ich meinen Stadtplan von 2005 zur Hand (deren Karten seit 1988 unverändert scheinen) mit „Total Index of Streets“. Da das Straßenverzeichnis nach den Five Borroughs gegliedert ist, blättere ich Stadtteil für Stadtteil durch, Manhattan, Bronx, Brooklyn, Queens: wie zu erwarten: nichts. Im letzten, in Staten Island jedoch gibt es eine „Mann Avenue“.
Das freut mich – und die Straße kommt auf die Liste der zu besuchender Orte in New York. Auch wenn sich Bedenken anmelden: Ich weiß, dass es in den USA und weltweit hunderte von „Mann“-Straßen gibt (so z.B. auch in Wien). Sie haben mit Thomas Mann und seiner Familie nichts zu tun – außer, dass sie den Familiennamen teilen. Wäre es nicht ein Fake oder zumindest ein Abweg in die Beliebigkeit, sich da einfach einen oder mehrere Straßennamen an verschiedenen Orten herauszupicken und auf diese Weise den Anschein von noch mehr Bedeutung und Internationalität der Familie Mann zu generieren?
Andererseits: ist es nicht zuletzt die Allgemeinheit des Namens „Mann“, die mich bei dem Projekt interessiert? Und beim Alexandria-Projekt, bei dem ich verschiedene Städte bereiste, die nur der gemeinsame Name verband, in Ägypten, Virginia, Italien, – ging es da nicht auch um die Mehrdeutigkeit von Namen, die „Bedeutung“, die wir ihnen zumessen?
Und so geht es zur Mann Avenue, nach Staten Island.
Wie bei den bisher besuchten (Thomas) Mann-Straßen, in Rom etwa, so liegt auch diese etwa anderthalb Stunden vom Zentrum (Manhattan, Bowery) entfernt. Mit der Subway zum Battery Park, mit der Fähre nach Staten Island, dann mit dem Bus quer über die Insel – von der ich bisher keine Vorstellung hatte, wie groß sie ist und wie weit sie sich erstreckt.
Die Mann Ave selbst – der Busfahrer, nachdem er sich buchstabierend vergewissert hat „M‑A-N‑N“?, kennt sie, was ich gar nicht erwartet hatte. Eine der vielen Querstraße zum langen Victory Boulevard. Das System der Gegensätze Street und kreuzenden Avenues ist beibehalten – obwohl die „Avenue“ wenig von ihren prominenten Verwandten auf Manhattan hat.
Ich mache Fotos, messe am Pfosten herum, „Looks good?“ fragt ein Mann, der vorbeikommt. Ob er wisse, nach wem die Straße benannt sei? Er weiß es nicht, aber interessanterweise stammen für ihn nach Personen benannte Straßen vor allem aus der jüngsten Gegenwart. „Usually they put two signs on it, like „Victory Boulevard“ and like „Billy Smith“, after a firefighter“. Er deutet stolz auf sein Poloshirt, auf dem das Abzeichen einer freiwilligen Feuerwehr eingestickt ist. 9/11 hat also in der Straßenbenennung Spuren hinterlassen, und da es keine „freien“ Straßen gab, hat die Stadt Abschnitte bestehender Straßen mit Namen versehen – als Form des Gedenkens.
Es dämmert und wird bei der Rückfahrt zur Fähre endgültig dunkel.