Von Halifax, dem Wirkungsort von Elisabeth Mann-Borgese, geht es auf dem Landweg zurück in die USA, zunächst per Bus nach Saint John, noch in New Brunswick, Kanada. „From here, you’ll be pretty much on your own“, meint der Busfahrer beim Aussteigen. Da hier Richtung Grenze keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr fahren, versuche ich mein Glück per Anhalter – und finde mich wieder an einer Straße mit dem schönen Namen „Hope Street“. Es dauert. Aber es stimmt schon: „Wenn es einmal läuft, ist das Trampen unvergleichlich“ (Walter Scherf). Mit Trucks und Autos geht die Fahrt durch das herbstliche Maine nach Bangor, von da aus wiederum mit Bussen nach New York.
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Von dort aus führt die Route coast-to-coast, über Chicago, San Francisco nach Los Angeles, wo das ehemalige Haus von Thomas Mann in Pacific Palisades Ziel ist. In Chicago nehme ich einen Zug mit dem einschmeichelnden Namen „California Zephyr“. Das suggeriert eine Windeseile, die so doch nicht ganz zutrifft: Die Fahrt von Illinois nach Kalifornien dauert immerhin drei Tage. Das ist sicher nicht die schnellste und effizienteste Art zu reisen. Aber ähnlich wie bei der Fahrt nach Nida in Litauen geht es darum, ein Gefühl für Entfernungen zu bekommen, mit einer ähnlichen Geschwindigkeit unterwegs zu sein wie die Manns – und auch Landschaft zu sehen, zu erfahren. Die Langwierigkeit und das gemächliche Tempo passen zudem zu Thomas Manns literarischem Stil. Am Ende, in der Nähe von San Francisco, wird der Zugchef die Fahrgäste verabschieden und von „epic journey“ sprechen.
Ab Denver durch die Rocky Mountains, in denen schon dünne Schneefelder liegen und Flussläufe eisgesäumt sind, dann am Colorado entlang; Felsmauern, Canyons, man glaubt, in einem Film zu sein, einem Western, etwa in Rio Grande oder 3.15 to Yuma. Man schaut die Abhänge hinauf, ob nicht Reiter herunterkommen, hört, ob sich Hufgetrampel in das Ruckeln des Zuges mischt.
Die Sonne geht unter, taucht die Felswände in rötliches Licht. Ich genieße die Szenerie, blende aus, weswegen ich unterwegs bin. Thomas Mann und seine großbürgerlich-hanseatische Welt sind Lichtjahre entfernt – scheint es. Ich komme mit einem Mitreisendem ins Gespräch, einem älteren Herrn; er hat mich mit meiner großformatigen USA-Karte hantieren gesehen, auf der ich versuche, den Streckenverlauf nachzuvollziehen, und fragt, ob die Gegend hier auch darauf zu finden sei; wir sind in Utah, bewegen uns auf Salt Lake City zu.
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Nach dem Woher und Wohin und Weswegen gefragt, erzähle ich vom Denkmalprojekt. Wie nochmal der Name des Schriftstellers laute? fragt der Herr mich – nickt dann zustimmend: „I’m just now reading Buddenbrooks“ und holt einen abgegriffenen blauen Leinenband hervor, auf dem man kaum den Titel mehr lesen kann – aus der Public Library in San Diego.
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Was für ein Zufall, oder, wie mir aus Filmen im Ohr ist, wenn Menschen oder Dinge zusammentreffen, die nach dem geringen Grad von Wahrscheinlichkeit es eigentlich nicht tun dürften, „what are the odds“? Dass gerade in diesem Zug nach Kalifornien, genau an diesem Tag, gerade in meinem Abteil jemand die Buddenbrooks liest, diese Geschichte aus dem fernen Lübeck!
Das könnte ein Ausgangspunkt für eine empirisch-konzeptuell-performative Arbeit sein: man fährt zwischen Illinois und Kalifornien hin und her, geht wie die Schaffner durch den Zug, fragt, tippt sachte an der Schulter, ob hier jemand etwas von TM oder anderen Manns liest. Dann steckt man einen Zettel als Markierung über den Sitz. Allzuviel Zettel dürften nicht zusammenkommen.
Es ist Nacht geworden. Ich drehe mich zu meinem Mitreisenden um, er lehnt im Dunkeln. Auf dem Sitz neben ihm das Buch. Thomas Mann fährt mit.