Halifax – ich hatte zunächst gezögert, dorthin zu reisen, an die Westküste Kanadas, nach Neuschottland, von New York auf dem Landweg etwa 1400 km entfernt. Dann aber, einmal auf dem nordamerikanischen Kontinent, scheint es eine Gelegenheit, das Umfeld zu erkunden, in dem Elisabeth Mann Borgese, Thomas Manns jüngste Tochter (1918–2002, von Insidern EMB abgekürzt), über 25 Jahre gelebt hat.
Karolina Kühn vom Literaturhaus München, die 2013 eine Ausstellung zu EMB kuratierte, nennt Kontaktpersonen in Halifax und bestärkt mich in der Reiseabsicht – bereits die Landschaft dort sei es wert!
Welches Verkehrsmittel ist angemessen? EMB, leidenschaftliche Autofahrerin, fuhr die Tour in den Norden das erste Mal in einem Rutsch von 16 Stunden. Später nutzte sie aber auch den kleinen Flughafen von Halifax ausgiebig. Ich beschließe, hin zu fliegen, zurück nach New York auf dem Landweg zu reisen. Von oben sieht Nova Scotia sehr vielverprechend aus.
Ich erkunde zunächst die Gegend um Halifax, übernachte auf einer Halbinsel mit dem schönen Namen „Dead Mans Island“, ziehe an Buchten entlang, durch Wald, Gebüsch an Seen vorbei, über blankgescheuerte Granitflächen. Nach Westen sind noch die Hochhäuser der Stadt zu sehen. Auf der anderen Seite in der Ferne das Meer.
Die Straße, auf der ich nach einem Abstecher in die fast menschenleere Umgebung zwischen Stadt und Küste als erstes stoße – Princeton Road. Was für ein Zufall!
Von Princeton nach Halifax: So läßt sich ein Teil des Weges von EMB beschreiben: In Princeton kommt sie mit den Ideen einer Weltregierung in Berührung, mit politisch engagierten Emigranten wie ihrem zukünftigen Mann Giuseppe Antonio Borgese, die unter dem Eindruck von NS-Regime und Faschismus z.B. die Konferenz „City of Man“ 1940 veranstalten, an der auch Thomas Mann mitwirkt, eine Weltverfassung entwerfen. Das Meer, zu dem Elisabeth schon seit der Kindheit eine enge Beziehung hatte – siehe die Aufenthalte an der Ostsee auf Nidden – ist ihr das Gebiet, um diese idealistischen Vorstellungen umzusetzen. Sie setzt sich ein für Nachhaltigkeit und internationale Zusammenarbeit, etwa im Club of Rome – als einzig weibliches Mitlied, ihrer Zeit in mehrfacher Hinsicht voraus. 1972 gründet sie das International Ocean Institut (IOI). Fachkenntnisse eignet sich die studierte Musikerin nach Interesse und Bedarf an – darin ihrem Vater nicht unähnlich. Im Verlauf ihrer unkonventionellen, heute so kaum mehr möglichen Karriere kommt sie 1978 an die Delhousie-Universität in Halifax, immerhin mit 60 Jahren, als Professorin für internationales Seerecht.
Zurück in der Stadt besuche ich das IOI, in einem vergleichsweise bescheidenen Holzhaus in der Nähe der Universität. Die Atmosphäre ist familiär. Madeleine Coffen-Smout, Programmleiterin, Mike Butler, Direktor, und Hugh Williamson, ehemaliger Assistent EMBs, machen mich mit der Aktivität des IOI bekannt: es hat wenig direkten politischen Einfluss, stellt aber ein umfangreiches Netzwerk dar. Schwerpunkt ist das internationale Ausbildungsprogramm in politischen Wissenschaften, internationalem Recht, Wirtschaft und Management, Meereskunde. Die Kurse haben Modellcharakter, viele der Teilnehmer sind später an Schaltstellen tätig und vergrößern so das Netzwerk, das auf einen verantwortungsvollen Umgang mit den Resourcen der Meere, auf ein globales ökologisches und ökonomische Bewusstsein abzielt.
Madeleine hat Schautafeln, Bilder und Publikationen zusammengestellt, die mit EMB in Zusammenhang stehen. Dabei fällt auf, dass sie auf den meisten, besonders den frühen Fotos sehr männlich aussieht, laut eigener Aussage aussehen wollte, mit kurzen Haaren und ernstem, extra fürs Foto aufgesetztem Blick. Und in der Tat, mit der weiblichen Geschlechterrolle hatte EMB lange zu kämpfen, wollte als Mann erscheinen, sich auch leistungsmäßig beweisen, etwa durch pianistisches Können, nicht zuletzt ihrem Vater Thomas Mann gegenüber. Das interessiert mich besonders, da der Familienname ja auch als Geschlechtsbezeichnung gelesen werden kann und die Auseinandersetzung damit und mit entsprechenden bürgerlichen Erwartungen in der Familie eine Art Leitmotiv darstellt, auch bei Erika und Katja. Hier werden Gendergrenzen überschritten einerseits phänotypisch, im Sinn von androgynem Aussehen, andererseits auch im Sinn von Emanzipation. Auch schwingt der Leistungsgedanke mit – leitet der Name ‚Mann’ sich doch vom Übernamen für einen tüchtigen Menschen ab.
Hugh Williamson erzählt von EMB Tätigkeit und Persönlichkeit: Sie verfolgte ihre Ziele ausdauernd und selbstbewusst, rief auch, wenn es etwa um die Ratifizierung von internationalen Abkommen ging, beim amerikanischen Präsidenten an. Inwiefern spielte ihr prominenter Familienname eine Rolle? EMB scheute sich nicht, ihn einzusetzen („Mann? That is an interesting name“), wenn es darum ging, Zugang zu bekommen und Mitstreiter für die Sache der Meere zu gewinnen.
Eine Straße ist nach EMB in Halifax und auch sonst weltweit nirgends benannt – außer in München, der Stadt, in der sie geboren und aufgewachsen ist. Es gibt aber doch einen weiteren Namensträger, ein Fortbewegungs- und Transportmittel, das in dem Element unterwegs ist, für das sich EMB enagierte: ein Schiff.
Ähnlichkeit mit dem Ausblick von einem Schiff hatte der Blick aus ihrem häuslichen Arbeitszimmer vom Schreibtisch nach draußen aufs Meer, wobei das Geländer vor dem Fenster wie eine Reling wirkt. Den Gegenstand ihrer Bemühungen vor Augen und Ohren zu haben, war ihr wichtig, neben Ungestörtheit und Konzentration.
Am Nachmittag fährt mich ein weiterer freundlicher Mitarbeiter des IOI, Dirk Werle, zu EMBs ehemaligem Haus in Sambro Head, entlang der Küste. Man fährt etwa eine halbe Stunde, durch die dünnbesiedelte Gegend, die ich zuvor erkundet hatte. Freunde und Geschwister (etwa Golo) waren damals nicht unbedingt begeistert, dass sie sich so weitab vom Schuss niedergelassen hatte, dort, wo wie jetzt, im Herbst bereits der Wind vom Atlantik her pfeift und im Winter schon mal die Leitungen einfrieren. Aber EMB wollte es so.
Das Haus wirkt bescheiden, aber schützend und gemütlich, mit zum Boden gezogenen Dächern, einer „A“-Konstruktion, jetzt etwas verwildert und eingewachsen; EMB starb ja bereits 2002. Die Hausnummer ist auf eine Holzlatte geschrieben, mit aufgeschraubter Leuchte – von der allerdings nur noch eine Fassung vorhanden ist. Auch die Straßenleuchte gleich gegenüber ist denkbar einfach: ein Holzmast aus einem Baumstamm, der gleichzeitig als Träger von Strom- und Telefondrähten dient, daran ein Ausleger.
Der Kontrast zu den Villen ihres Vaters ist eklatant, gerade nachdem ich kurz vorher das Haus in Princeton gesehen hatte. Aber wen hätte Elisabeth beeindrucken, was hätte sie repräsentieren sollen?
Zwei Zitate zu/von EMB sind mir noch im Gedächtnis: „She was an iceberg“ (Hugh Williamson), anerkennend gemeint: unbeirrbar, zielstrebig unterwegs, mit nur einem Bruchteil des Volumens sichtbar. Und: „It’s easier to get forgiveness than permission“, das im Bezug auf ihre vielen Projekte und Versuche, auf Leute einzuwirken und das zu bekommen, was sie wollte. Ich muss an das Denkmalprojekt denken, wo es ja auch viel um Genehmigungen gehen wird – da könnte ich mir eine Scheibe abschneiden …