Die Unterschiede zwischen den einzelnen Manns und ihrer Rezeption treten auch in den Straßennamen und ihren Schildern zutage. Frankfurt ist eine der wenigen Städte – neben München die einzige – in der eine Straße oder ein Platz nach Klaus Mann benannt ist. Ich rufe bei der Stadt Frankfurt an und frage nach dem Schild, um es ins Denkmal einzubauen. „Thomas Mann können sie gleich haben, Klaus Mann haben wir leider gerade nicht“ ist die Auskunft.
In der Tat, ich habe gar nicht daran gedacht, dass es in Frankfurt natürlich auch eine nach Thomas Mann benannte Straße geben muss, der Schriftsteller war ja schließlich Träger des Goethe-Preises, den er im Sommer 1949 in Frankfurt in einem Festakt entgegennahm – im gleichen Jahr, in dem sein Sohn Klaus am 21. Mai in Cannes sein Leben beendete. Und diese Thomas-Mann-Straße scheint auf irgendeine Weise prominenter, bekannter zu sein als der nach seinem Sohn benannte Platz, weswegen dafür ein Schild auf Vorrat bereitgehalten wird, für Klaus jedoch nicht.
Ein Blick in einen Stadtplan zeigt, warum das so sein könnte: Es gibt die Thomas-Mann-Str. schon länger, sie ist sozusagen eingeführt: sie taucht z.B. auf einem Stadtplan von 1984 auf, während ein Klaus-Mann-Platz in Frankfurt noch nicht zu finden ist. Und sie erstreckt sich über eine beachtliche Länge, wenn sie auch nicht eben zentral liegt. Auch in anderen Städten, etwa in Lübeck, Rom, Paris, São Paulo, liegt die Thomas-Mann-Straße in Neubau- und Außenbezirken, da, wo Platz und Bedarf nach neuen Namen war. In Frankfurt befindet sie sich in der Nordweststadt, einer Trabantenstadt aus den 1960er Jahren. Passenderweise ist sie vom Gerhard-Hauptmann-Ring eingefasst, wie Mann Goethe- und Nobelpreisträger und von diesem als Konkurrent argwöhnisch beobachtet. Die Benennung benachbarter Straßen, Parks und Schulen nach Persönlichkeiten wie Dag Hammarskjöld, Martin Luther-King und Ernst Reuter stellt die Schriftsteller in den internationalen, humanistisch-politischen Kontext der 60er Jahre. Die Thomas-Mann-Straße gehört also zum Bestand seit der Nachkriegszeit. Und sie ist eine „reale“ Straße mit Hausnummern, während der Klaus-Mann-Platz keine Postadresse, sondern eine reine Gedenkadresse ist, nachträglich in die Innenstadt eingefügt.
Der Name „Klaus-Mann-Platz“ stammt erst von 1995. Er steht in Zusammenhang mit der Umgestaltung einer ehemaligen Kreuzung zu einem Platz, geprägt durch ein Denkmal, ein Mahnmal an die Verfolgung Homosexueller im Nationalsozialismus, das erste dieser Art in Deutschland. Die Lage ist sinnvoll gewählt, in einem von der Szene frequentierten Quartier mit Bars, Cafés, in unmittelbarer Nähe der Justizgebäude, also von Überwachung und Bestrafung (was sich auch im Namen der nahen U‑Bahnstation „Konstablerwache“ wiederfindet). Auf der Webseite zum Mahnmal lese ich die spannende Geschichte seiner Entstehung nach, die sich über sieben Jahre hinzog, ein schönes Beispiel, wie sich ein Denkmal im öffentlichen Raum realisieren lässt, wenn eine private, bürgerschaftliche Initiative mit viel Ausdauer verfolgt und von Kommunalpolitik, Verwaltung, Stadtgesellschaft und Kunstinstitutionen mitgetragen wird. Es wurde Geld von der Stadt und privaten Sponsoren, auch Privatleuten gesammelt. In einer Jury engagierte sich u.a. Jean-Christophe Ammann, Direktor am Museum für Moderne Kunst. Man lud international renommierte Künstler zu einem Wettbewerb, darunter Stephan Balkenhol, Hermann Pitz, Jeff Wall und Rosemarie Trockel.
Der Entwurf von Trockel wurde realisiert. Er besteht aus einem schwarzen neogotischen Engel, Abguss eines Engels von der Fassade des Kölner Doms. Trockel schlug ihm den Kopf ab und montierte ihn leicht versetzt wieder auf, so dass die Gewalt der Geste im Bruch sichtbar bleibt. Von Versehrung zeugen auch die teils abgebrochenen Flügel. Die androgyne Figur des Engels passt zum Thema der Gleichgeschlechtlichkeit, ohne es explizit anzusprechen. Es lässt sich auch mit der Familie Mann verbinden, mit Klaus und Erika, die in offen gleichgeschlechtlichen Beziehungen lebten, aber auch mit Thomas und Golo. Androgynität fällt einem auch ein in Bezug auf die Art und Weise, wie sich die Familienmitglieder selbst darstellten: Über die allgemeine Tendenz zum androgynen Typus der 1920er/30er Jahre und die stark ausgeprägte Familienähnlichkeit hinaus glichen Klaus und Erika sich und ihre Geschlechter auf Fotos aneinander an, und zum „Mann“ tendierende Bilder gibt es auch von Elisabeth.
Ich war bereits 2019 in Frankfurt gewesen, an einem nasskalten Februartag, eigentlich zu früh für einen field trip. Mit klammen Fingern drückte ich auf den Auslöser, machte Fotos von Schild, Leuchte und Platz, glich meine virtuellen Rundgänge mit der Realität ab. Der Ortstermin war wichtig, der Eindruck zwiespältig: Verkehr, Autos und Parkplätze dominieren; als Reaktion darauf ist die Mitte der großen Straßenkreuzung, an deren Rand sich der Platz befindet, mit Kreisen in Regenbogenfarben gestaltet, was auch auf den Zusammenhang mit der Schwulen-Szene anspielt. Der Platz selbst ist auf Wikipedia zurückhaltend als „architektonisch heterogen“ beschrieben. Eine Turnhalle einer Schule aus den 1950er Jahren (ironischerweise eine ehemalige Klosterschule, die Liebfrauenschule) mit Fenstern aus Glasbausteinen, die einen seltsam abweisend-gitterartigen Hintergrund bilden, ein Hotel, ein Kino, aus den 80er Jahren, ein paar Platanen, die ihre jetzt knotigen, beschnittenen Äste laublos nach allen Seiten strecken; überquellende Mülltonnen an der Ecke, Verteilerkästen mit Tags und Graffitis überzogen, neben der Leuchte mit dem Schild. Der knallgrüne Mülleimer am Mast. Die Leuchte ist beschlagen, Tropfen hängen an ihrer Unterseite. Auf den Sitzbänken um das Mahnmal stehen Schnapsflaschen, liegen Pappkartons. Wenn sich hier jemand aufhält, dann vor allem Obdachlose und Jägermeister-Liebhaber. Das Schicksal von viel Kunst im Öffentlichen Raum. Der Engel behauptet jedoch schwarz und stoisch seine Würde, als könne ihn das alles nichts anhaben, eben wie nicht von dieser Welt, eingerahmt von Steinbänken und der immergrünen Hecke. Die streng symmetrische Anlage erinnert an einen Friedhof.
Aber das alles passte mir auch ins Konzept: Am Salvatorplatz, in der Münchner Altstadt, wird Klaus Mann bzw. sein Name mit Schild und Leuchte in einem anderen urbanen Kontext stehen, gerahmt von denkmalgeschützten Gebäuden, dem Literaturhaus, einer spätmittelalterlichen Kirche und einem Rest Stadtmauer. Ein Hotel gibt es dort auch, aber es wird gerade neu gebaut und gehört der Luxus-Kategorie an. Das Schild kommt sicher besser zur Geltung als in Frankfurt, es rückt gleichsam vom Rand in die Mitte, freigestellt und gleichzeitig im Verbund der Familie. Von der Funktion befreit, den Platz beleuchten zu müssen (und vielleicht auch der, einen Mülleimer zu tragen), stehen Mast, Leuchte und Schild stärker für sich als Objekte, als Readymades. Sie sehen anders aus als die ortsüblichen Münchener Varianten, bringen ein Element des Fremden auf den Platz. Das Schild legt Zeugnis davon ab, dass an Klaus Mann nicht nur in München gedacht wird. Der Verweis auf die Herkunft des Ensembles und auf den Frankfurter Engel, das Denkmal für die verfolgten Homosexuellen, bleibt bestehen. Das Mahnmal wird damit – indirekt – Bestandteil des Denkmals in München.
Ein Gedanke zu „Klaus Mann, Thomas Mann und der Frankfurter Engel“
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