São Paulo, Rua Thomas Mann – wie hoch gehängt?

Von Los Ange­les nach São Pau­lo, auf der Suche nach den Manns, nach Stra­ßen­na­men und ‑leuch­ten. Zunächst hat­te ich gedacht, ein­mal auf dem ame­ri­ka­ni­schen Kon­ti­nent, fah­ren wir auch nach Süd­ame­ri­ka – und die Stre­cken unter­schätzt. Was auf der Kar­te nur eine Hand­span­ne ent­fernt scheint, sind in Wirk­lich­keit ca. 10 000 km Luft­li­nie. Auf dem Land­weg inner­halb des gesetz­ten Zeit­rah­mens kaum mög­lich – also doch wie­der ein Langstreckenflug.

Die Ent­fer­nung ist auch groß bezo­gen auf die Manns, ihre Bio­gra­phien und ihre Rezep­ti­on: In Nord­ame­ri­ka leb­ten und arbei­te­ten sie lan­ge Jah­re, wur­den teils auch US-Staats­bür­ger; Micha­el blieb dort, Eli­sa­beth ging nach Kana­da. Trotz die­ser Prä­senz haben sie kei­ne Spu­ren in Form von Stra­ßen­na­men hinterlassen. 

Auf dem süd­ame­ri­ka­ni­schen Kon­ti­nent dage­gen war von den Manns kaum jemand, und Tho­mas schon gar nicht. Trotz­dem gibt es meh­re­re Stra­ßen, die nach ihm benannt sind, unter ande­rem in São Pau­lo und Curi­ti­ba. Womit hängt das zusam­men? Wohl mit dem hohen Stel­len­wert von Lite­ra­tur in Süd­ame­ri­ka all­ge­mein und der Migra­ti­ons­ge­schich­te von Deut­schen zwi­schen die­sem Kon­ti­nent und Euro­pa im Beson­de­ren, wie sie gera­de in der Fami­lie Mann deut­lich wird: Manns Mut­ter Julia Sil­va-Bruhns stamm­te aus Bra­si­li­en, als Toch­ter von Maria de Sil­va, aus por­tu­gie­si­scher Fami­lie, und des Lübe­cker Kauf­manns Johann Lud­wig Bruhns, der nach Bra­si­li­en aus­ge­wan­dert war und dort, in São Pau­lo, eine Fir­ma gegrün­det hat­te. Nach dem Tod sei­ner Frau ging er mit sei­nen Kin­dern nach Lübeck zurück. 

In der Biblio­te­ca Mario de And­ra­de, der zen­tra­len Stadt­bi­blio­thek in São Pau­lo, ent­de­cke ich in der Sek­ti­on zur Geo­gra­phie Bra­si­li­ens, neben Wür­di­gun­gen bra­si­lia­ni­scher Fuß­ball­spie­ler, auch eine Bio­gra­phie der Brü­der Mann. Die gehö­ren also auch zur hie­si­gen (Kultur)Landschaft. Nigel Hamil­ton betont das bra­si­lia­ni­sche Erb­teil der Mut­ter und ihren Ein­fluss auf die lite­ra­ri­sche Kar­rie­re der Söh­ne, auch ihre poli­ti­sche Hal­tung: Gera­de Hein­rich habe viel von der Mut­ter geerbt, den kämp­fe­ri­schen, lei­den­schaft­li­chen, radi­ka­len Geist, wäh­rend Tho­mas eher dem Vater nach­ge­schla­gen sei … Nichts­des­to­trotz sind Stra­ßen nach Tho­mas, nicht nach Hein­rich benannt. 

Die Rua Tho­mas Mann in São Pau­lo ist eine Sei­ten­stra­ße im nörd­li­chen Quar­tier Casa Ver­de, wie­der ein­mal etwa andert­halb Stun­den Bus­fahrt vom Zen­trum aus, geprägt durch eine Mischung von klei­nen Läden, Restau­rants und Auto­werk­stät­ten. Von Ästhe­tik ist hier im prak­tisch-ange­wand­ten Sinn die Rede: „Este­ti­ca auto­mo­bi­lis­ta“ heißt eine Werk­statt, wo geschlif­fen und lackiert wird.

Tho­mas Mann befin­det sich in Gesell­schaft von bra­si­lia­ni­schen und inter­na­tio­na­len Schrift­stel­ler­kol­le­gen, wie dem por­tu­gie­si­schen Lyri­ker Arman­do da Sil­va Car­val­ho, nach dem die Haupt­stra­ße benannt ist, aber auch von Intel­lek­tu­el­len, die mit Spra­che ins­ge­samt zu tun hat­ten: eine Quer­stra­ße zuvor trägt den Namen des Espe­ran­to-Begrün­ders Zamenhof.

Es gibt zwei Arten von Stra­ßen­schil­dern: die offen­sicht­lich älte­ren an Haus­wän­den, mit einem wei­te­ren Schild mit Zusatz­in­for­ma­ti­on zur Per­son, hier „escri­tor“ und den Lebens­da­ten. Durch gel­ben Putz sind die Schil­der hier ein­ge­rahmt und teil­wei­se über­deckt, sehen aus wie fest­ge­mör­telt. Da sie so mit der Archi­tek­tur ver­bun­den sind, wäre es schwie­rig, sie in Mün­chen zu inte­grie­ren. Und in dem Fall, bei dem ich schon vor­ha­be, ein Schild an eine Wand anzu­brin­gen, der Rue Tho­mas Mann aus Paris, muss ich mich noch mit dem Denk­mal­schutz aus­ein­an­der­set­zen. Zum Glück gibt es aber auch die Vari­an­te der Schil­der an den Leuchten. 

Straßenschild in der Rua Thomas Mann

Das Stra­ßen­schild wei­ter unten ist arg zusam­men­ge­knickt und ‑gestaucht. Es sieht aus, also ob ein Olaf Met­zel hier zu Wer­ke gegan­gen sei, gewinnt aber gera­de in sei­nen Fal­tun­gen eine plas­tisch-dekon­struk­ti­vis­ti­sche Qua­li­tät, die mir sehr gut gefällt. Am liebs­ten wür­de ich es gleich mitnehmen. 

Wahr­schein­lich sind es hohe LKWs gewe­sen, die das Schild tou­chiert haben. Wie hoch ist es eigent­lich gehängt? Das inter­es­siert mich, auch im Hin­blick auf die Mün­che­ner Installation. 

In der Haupt­stra­ße gehe ich auf die Suche nach einem Werk­zeug zum Mes­sen. Im Laden einer alten Dame, die Kat­zen­fut­ter und Wasch­mit­tel anbie­tet, wer­de ich lei­der nicht fün­dig. In einem Geschäft für Haus­halts- und Hand­werks­be­darf (in Ita­li­en wäre es eine mestic­ce­ria) sehe ich Meter­stä­be, kür­zer als die euro­päi­sche Vari­an­te, dafür dicker. Ich ent­schei­de mich dann aber für ein gel­bes Metall­maß­band. Und mes­se am Mast her­um, mes­se, wie hoch das Schild mit dem Namen Tho­mas Mann gehängt ist. Gar nicht so ein­fach, denn das Band mit sei­nen drei Metern reicht nicht bis hin­auf. Es sind 3,40 Meter, damit höher als in München.

Coers beim Messen der Höhe des Thomas-Mann-Schildes

Früh gehen die Stra­ßen­leuch­ten an, etwa um halb sechs, noch vor der Däm­me­rung. Aller­dings nur in man­chen Stra­ßen­zü­gen, den Haupt­stra­ßen. Die Sei­ten­stra­ßen und damit auch die Rua Tho­mas Mann blei­ben noch unbe­leuch­tet. Es scheint sich um ein Ener­gie­spar­kon­zept zu han­deln, das bestimm­te Stra­ßen­zü­ge prio­ri­siert – so wie Flug­gäs­te in der 1. Klas­se das Essen zuerst bekom­men.   Ich dre­he meh­re­re Run­den, man kennt mich inzwi­schen im Vier­tel schon, und end­lich gehen auch die Leuch­ten in den Sei­ten­stra­ßen an, geben ein röt­lich-gel­bes Licht – bis auf die eine in der Rua Tho­mas Mann! Als ob sie sich bewusst ver­wei­gern wür­de. Das könn­te über­haupt ein wei­te­res Kon­zept sein, um Ver­bin­dung und Trans­fer zu ver­deut­li­chen: Jeweils die eine Lam­pe leuch­tet nicht – aber dafür ihr Pen­dant in Mün­chen! Das Licht wäre gleich­sam umge­schal­tet, umgezogen. 

Straßenleuchte Sao Paulo

Ich räu­me das Feld und hof­fe, in den nächs­ten Tagen von der Stadt­ver­wal­tung eine Leuch­te bekom­men zu kön­nen. Auf der Rück­fahrt durch die dun­keln­de Stadt schla­fe ich im Bus ein, trotz des Stop-and-Go im Feierabendverkehr. 

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